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Stellenkommentar GM II 2, KSA 5, S. 292 235

nicht häufiger Personen, deren Versprechen keinen Pfifferling wert sind, weil
sie sie gar nicht einzuhalten gedenken?
Die dritte Irritation gründet also darin, dass das „souveraine Individuum",
das hier scheinbar in höchsten Tönen gepriesen wird, als (schon erreichter
oder noch zu erreichender?) Endpunkt der Moralgeschichte kaum mehr Ähn-
lichkeiten hat mit den starken Kriegern und Raubmenschen aus GM I, die alles
aus unmittelbaren Machtaffekten heraus zu tun gewohnt sind. Umso größer
sind die Ähnlichkeiten des „souverainen Individuums" mit dem Typus des stoi-
schen Weisen, der sich selbst in der Gegenwart und für alle Zukunft unter Kon-
trolle hat. Er ist es, der versprechen darf, weil er weiß, dass er sich nie aus der
Selbstgewalt entlässt. Auch das von Kant beschriebene Vernunftsubjekt, das
sich selbst das Sitten-Gesetz auferlegt und sich so freiwillig dem Zwang einer
selbstgewählten, aber vernunftnotwendigen Moral unterwirft, sich und sein
Handeln für alle Zeiten verbindlich macht, kommt dem souveränen Individu-
um zwar nicht in der überbordenden Rhetorik, wohl aber im Gehalt bedenklich
nahe. In allen drei Fällen ist die Souveränität nur eine Herrschaft über sich
selbst und sein künftiges Sein - ob sie sich auch auf die Außenwelt erstreckt
oder nicht, tut in der Logik der Argumentation nichts zur Sache.
Die vierte Irritation rührt daher, dass dieses souveräne Individuum offen-
bar in sich selbst etwas findet, einen „langen unzerbrechlichen Willen[.]" (294,
5), ein „Werthmaass" (294, 6), an das es sich bindet und dem es unverbrüch-
lich treu bleiben kann. Es bindet sich also weder an etwas Äußerliches, an
die allgemeine „Sitte" (293, 23), von der es losgekommen ist, noch an die Angst
vor Vergeltung bei fehlender Schuldenrückzahlungsmoral oder an etwas
Allgemeines an - wie bei Kant - eine für jeden verbindliche Vernunft beispiels-
weise. Aber was ist das für ein unverrückbares Selbst, auf das sich dieses
souveräne Individuum stützt? Eine Art metaphysische Ich-Substanz wird man
bei N. doch auszuschließen geneigt sein. Dann also die eigene Physis, der
„Leib" als „eine grosse Vernunft" (Za I Von den Verächtern des Leibes, KSA 4,
39, 10) als das, woran sich das souveräne Individuum bindet? Aber kann der
Leib als etwas sich ständig Veränderndes, als etwas, was sich in immer neuen
Zuständen befindet und seine Bedürfnisse ändert - als etwas, was altert und
stirbt jene felsenfeste Verbindlichkeit verbürgen, auf die es beim souveränen
Individuum angeblich ankommt? Verlangt nicht gerade die Leiblichkeit, dass
das Individuum seinen Willen verändert - es sei denn, es hat den unveränder-
lichen Leib eines Gottes? Derartige Fragen lässt GM II 2 in bestürzender Weise
unbeleuchtet.
Die fünfte Irritation macht sich am Anspruch eines „freien Willens" fest,
dessen „Herr" (293, 30 f.) das souveräne Individuum sein soll. Es kann schwer-
lich die Freiheit von der eigenen Leiblichkeit meinen, brandmarken N.s Texte
 
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