236 Zur Genealogie der Moral
die Idee eines reinen, freien Geistes doch wiederholt als metaphysische Illusi-
on. Meint diese Willensfreiheit also bloß die Freiheit von der herrschenden
„Sitte", vom Gut und Böse der Anderen, der Vielen? Leiter 2011, 102 behauptet
beispielsweise, N. leugne, dass Menschen je frei handeln könnten - entspre-
chend gilt ihm die Rede vom freien Willen in 293, 30 f. nur als rhetorischer
Popanz (vgl. zu Leiters Fatalismus-Lesart auch May 2011a, 9 f.). Nimmt man
den Text ernster als Leiter es tut (und übersieht nicht wie dieser großzügig,
dass N.s Texte oft genug den Fatalismus ebenso als ein falsches metaphysi-
sches Ideologem denunzieren wie die Willensfreiheit), wäre dann jeder, der
sich über die Sitte der Anderen hinwegsetzt, ein souveränes Individuum? Of-
fenbar doch nur, wenn er Gewalt gewinnt, wenn er seine Interessen gegen
Widerstand durchsetzen kann. Und doch ist das souveräne Individuum erklär-
termaßen das Produkt einer historischen Entwicklung. Ansell-Pearson 1991b,
277 behauptet sogar, es sei „the overriding aim of the Genealogy of Morals [...]
to show that what Kant and the modern liberal tradition of moral and political
thought simply take for granted, the sovereign individual in possession of a
free will and conscience, is in reality the product of a specific historical labour
of culture or civilization." Aber wie kann das geschichtlich gewordene, souve-
räne Individuum wissen, ob es wirklich das Eigene tut und in dem, was es
tut, nicht einfach durch seine Geschichte determiniert ist? Owen 2009, 203-211
versucht zu zeigen, dass N. an dieser Stelle genau jenes positive, eigene Kon-
zept von Freiheit entwickle, das er in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38,
KSA 6, 139 f. weiter entfalte (vgl. Poellner 2009, 156). Katsafanas 2016 argumen-
tiert, in GM II 2 stelle N. mit dem souveränen Individuum ein für ihn ideales
Wesen vor, das über einen autonomen Willen verfügt und sein Leben selbst zu
meistern verstehe (vgl. auch Ridley 2009, 193 f. u. Richardson 2009, 128 f.). Eine
weitere Deutungsoption schlägt Leon Hartmann gesprächsweise vor, wenn er
JGB 19 heranzieht, wo der Mensch des freien Willens beschrieben wird als der-
jenige, „der will" und „Etwas in sich" „befiehlt", „das gehorcht oder von dem
er glaubt, dass es gehorcht" (KSA 5, 32, 30 f.). Diese Definition könnte nach
Hartmann den freien Willen des souveränen Individuums in GM II 2 zu bestim-
men helfen, und zwar, insofern der (scheinbar) freie Souveräne Befehlender
und Gehorchender zugleich sei.
Sodann betrifft die sechste Irritation die weltgeschichtliche Rolle des sou-
veränen Individuums, das als eine Art Deus ex machina auftaucht und dem
Geschichtsverlauf einen Gesamtsinn gibt, so wie Kants Geschichtsphilosophie,
auf die der Anfang von GM II 1 anspielt, durch den Ausblick auf einen weitbür-
gerlichen Zustand einen solchen Gesamtsinn verspricht (vgl. Sommer 2006b,
310-344). Die Metapher vom „Baum", der „Früchte" trage (293, 18) und dessen
„reifste Frucht" (293, 20) eben das souveräne Individuum sei, verweist nicht
die Idee eines reinen, freien Geistes doch wiederholt als metaphysische Illusi-
on. Meint diese Willensfreiheit also bloß die Freiheit von der herrschenden
„Sitte", vom Gut und Böse der Anderen, der Vielen? Leiter 2011, 102 behauptet
beispielsweise, N. leugne, dass Menschen je frei handeln könnten - entspre-
chend gilt ihm die Rede vom freien Willen in 293, 30 f. nur als rhetorischer
Popanz (vgl. zu Leiters Fatalismus-Lesart auch May 2011a, 9 f.). Nimmt man
den Text ernster als Leiter es tut (und übersieht nicht wie dieser großzügig,
dass N.s Texte oft genug den Fatalismus ebenso als ein falsches metaphysi-
sches Ideologem denunzieren wie die Willensfreiheit), wäre dann jeder, der
sich über die Sitte der Anderen hinwegsetzt, ein souveränes Individuum? Of-
fenbar doch nur, wenn er Gewalt gewinnt, wenn er seine Interessen gegen
Widerstand durchsetzen kann. Und doch ist das souveräne Individuum erklär-
termaßen das Produkt einer historischen Entwicklung. Ansell-Pearson 1991b,
277 behauptet sogar, es sei „the overriding aim of the Genealogy of Morals [...]
to show that what Kant and the modern liberal tradition of moral and political
thought simply take for granted, the sovereign individual in possession of a
free will and conscience, is in reality the product of a specific historical labour
of culture or civilization." Aber wie kann das geschichtlich gewordene, souve-
räne Individuum wissen, ob es wirklich das Eigene tut und in dem, was es
tut, nicht einfach durch seine Geschichte determiniert ist? Owen 2009, 203-211
versucht zu zeigen, dass N. an dieser Stelle genau jenes positive, eigene Kon-
zept von Freiheit entwickle, das er in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38,
KSA 6, 139 f. weiter entfalte (vgl. Poellner 2009, 156). Katsafanas 2016 argumen-
tiert, in GM II 2 stelle N. mit dem souveränen Individuum ein für ihn ideales
Wesen vor, das über einen autonomen Willen verfügt und sein Leben selbst zu
meistern verstehe (vgl. auch Ridley 2009, 193 f. u. Richardson 2009, 128 f.). Eine
weitere Deutungsoption schlägt Leon Hartmann gesprächsweise vor, wenn er
JGB 19 heranzieht, wo der Mensch des freien Willens beschrieben wird als der-
jenige, „der will" und „Etwas in sich" „befiehlt", „das gehorcht oder von dem
er glaubt, dass es gehorcht" (KSA 5, 32, 30 f.). Diese Definition könnte nach
Hartmann den freien Willen des souveränen Individuums in GM II 2 zu bestim-
men helfen, und zwar, insofern der (scheinbar) freie Souveräne Befehlender
und Gehorchender zugleich sei.
Sodann betrifft die sechste Irritation die weltgeschichtliche Rolle des sou-
veränen Individuums, das als eine Art Deus ex machina auftaucht und dem
Geschichtsverlauf einen Gesamtsinn gibt, so wie Kants Geschichtsphilosophie,
auf die der Anfang von GM II 1 anspielt, durch den Ausblick auf einen weitbür-
gerlichen Zustand einen solchen Gesamtsinn verspricht (vgl. Sommer 2006b,
310-344). Die Metapher vom „Baum", der „Früchte" trage (293, 18) und dessen
„reifste Frucht" (293, 20) eben das souveräne Individuum sei, verweist nicht