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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0270
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Stellenkommentar GM II 3, KSA 5, S. 295 251

Lustempfindungen. Er zieht bereits in Betracht, dass das sich moralisch entwi-
ckelnde, ein Gedächtnis ausformende Individuum keineswegs die Schmerz-
und Lusterfahrung am eigenen Leib gemacht haben muss, sondern sie bei Drit-
ten wahrgenommen haben kann. Dieselbe Überlegung, allerdings einseitig auf
die Schmerzerfahrung fokussiert, bringt GM II 3 vor, wenn angesichts der grau-
samen Strafpraktiken herausgestellt wird, dass es „Bilder und Vorgänge" (296,
34-297, 1) seien, die das Gedächtnis trainieren: Nicht diejenigen, die selber Fol-
ter und Hinrichtung erleiden, bekommen das Gedächtnis anerzogen, sondern
die Zeugen und Zuschauer der Exekutionen. Im Unterschied zu Dumont fällt
auf, dass Lust, Vergnügen, positive Empfindungen als gedächtnisbildende Er-
fahrungen sowohl in NL 1879, KSA 8, 42[61], 606 als auch in GM II 3 vollständig
entfallen. Tatsächlich ist die von Dumont vertretene Gedächtnistheorie wohl
empiristisches Gemeingut; für John Locke (An Essay Concerning Human Under-
standing [1690], Book II, Chap. X, 3) war sie schon eine Selbstverständlichkeit:
„Aufmerksamkeit und Wiederholung dienen sehr zur Befestigung der Vorstel-
lungen in dem Gedächtniss; den tiefsten und dauerndsten Eindruck machen
jedoch von Natur die mit Schmerz oder Lust verbundenen Vorstellungen" (Lo-
cke 1872, 1, 153, zu N. und Locke vgl. NK KSA 5, 35, 7 f. u. NK KSA 5, 195, 9-
13). Die Pointe in GM II 3 (wie schon in NL 1879) besteht darin, dass nur die
negativen Empfindungen beim „Menschen-Thier" gedächtnisträchtig, erinne-
rungsschaffend zu wirken vermögen. Dass nicht nur das memoriert wird, was
weh tat, sondern auch, was Freude bereitet, kommt in dieser Gedächtnistheo-
rie nicht vor (dieser Aspekt bleibt in der Rekonstruktion bei Thüring 2001b,
336-343 seltsam unterbelichtet - vgl. Thüring 1994; den mnemotheoretischen
Bezug zwischen Dumont und Nietzsche sieht auch Primavera-Levy 2011 nicht,
die ansonsten ausführlich N.s Dumont-Rezeption analysiert). Ändert sich das
Erinnerungsvermögen im Laufe der Menschheitsgeschichte und wird dann
auch fähig, Wohltaten im Gedächtnis zu behalten? Kein Wort davon in GM II 3!
295, 24-30 Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es
nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfän-
der (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum
Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte
(und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkei-
ten)] Dass in Religionen nicht Liebe und Fürsorglichkeit, sondern Gewalt und
Grausamkeit vorherrschen, ist eine religionskritische, religionshistorisch ge-
tarnte Feststellung, die in N.s Texten häufig angeführt wird - durchaus auch
in der Absicht, das humanistisch-laue, menschenfreundliche Antlitz des zeit-
genössischen Christentums als höhnische Fratze zu entlarven. Zu den archai-
schen Opferpraktiken, insbesondere zu dem bei N. in geradezu ritueller Wie-
derholung immer wieder bemühten Erstlingsopfer - so auch in GM II 19, KSA 5,
 
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