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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0278
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Stellenkommentar GM II 4, KSA 5, S. 297 259

ersten." (NK 6/2, S. 371). Als N. sich mit dem englischen Methodismus beschäf-
tigte und dazu William Edward Hartpole Leckys Entstehungsgeschichte und
Charakteristik des Methodismus las (vgl. NK KSA 5, 196, 9 f.), dürfte ihm auch
untergekommen sein, was Lecky 1880, 77 zu John Wesley notiert hatte: „Seine
Journale sind voller Geschichten von Geistern, von zweitem Gesicht, von Wun-
dern, die unter seinen Schülern geschehen waren." Die Wendung besagt, dass
jemand übernatürliche Dinge oder künftige Dinge zu schauen vermag, und war
zu N.s Zeit schon so weit verbreitet, dass sie auch in zeitgenössischen Lexika
ausgiebig erörtert wurde: „Zweites Gesicht (engl. Second sight), ein besonders
in Schottland und Nordengland herrschender Glaube, daß gewisse Personen
die Gabe besitzen, Zukünftiges vorauszusehen und namentlich alle demnächst
dem Tod anheimfallenden Bekannten zuvor mit geistigem Auge zu erkennen
[...]. Auch in Deutschland erzählt man sich viel Wunderbares von dem zweiten
Gesicht, welches man im Plattdeutschen die Gabe, ,Schicht to kiken', nennt.
Es gibt verschiedene Mittel, um diese Gabe zu erlangen oder ,schichtig' zu wer-
den; wer sie aber besitzt, gilt für unglücklich, weil er den Spuk sehen muß, so
oft er kommt, und die Fähigkeit nur los wird, wenn er sie auf einen andern
überträgt. [...]. Z. G. nennt man auch das Doppeltsehen (Deuteroskopie)
oder die nach dem Volkswahn gewissen Menschen verliehene Fähigkeit, zu
gleicher Zeit an zwei Orten gesehen zu werden, wo dann das eine Gesicht der
wirkliche Mensch, das zweite bloß dessen gespenstisches Schattenbild ist. Sol-
che Doppelgänger sollen meist besondern Unglücksfällen ausgesetzt sein und
sterben, sobald sie sich selbst erblicken" (Meyer 1885-1892, 16, 1013). Als bib-
liographische Referenz nennt der Lexikon-Artikel Carl du Preis kleine Studie
Das zweite Gesicht (1882); auf du Prel bezieht sich Paul Michaelis in seiner
Rezension von GM in der National-Zeitung vom 11. 03. 1888, wenn er sich scharf
gegen darin entworfene Zukunftsmenschheit verwahrt: „Denn so gut es uns
unmöglich ist, uns einen sechsten Sinn zu denken, so wenig wir uns eine vierte
Dimension vorstellen können, so wenig ist es möglich, uns ein Bild dieses
Uebermenschen zu machen. Man wird entweder die krankhaften Dispositionen
einzelner Menschen, das Hellsehen, das zweite Gesicht und ähnliche Phänome-
ne, verallgemeinern, wie es Karl du Prel thut, oder man wird geniale Anlagen,
besonders intensive geistige und körperliche Fähigkeiten auf dieses animal futu-
rum häufen, wie es Nietzsche versucht" (Reich 2013, 672). Wenn GM II 4 den
bisherigen Moralgenealogen abspricht, über ein „zweites Gesicht" zu verfügen,
dann wird ihnen nicht mangelnde Teilnahme an spiritistischen Sitzungen oder
magischen Praktiken angekreidet, sondern die mangelnde Fähigkeit, hinter die
Maske der Moral zu schauen. Das „zweite Gesicht" ist hier ein eminent histori-
sches Durchblicksvermögen.
297, 22-25 Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von
Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbe-
 
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