Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
260 Zur Genealogie der Moral

griff „Schuld" seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff „Schulden" ge-
nommen hat?] Thatcher 1989, 591 vermerkt, diese „idea" sei „implicit in Post
and Kohler", bei denen freilich der Gedanke selbst fehlt, dass nämlich die deut-
schen Worte „Schulden" für ökonomische Verbindlichkeiten und „Schuld" für
moralische Verfehlungen nicht einfach nur zufällig äquivok seien, sondern es
zwischen beidem auch in der Sache ein kausales Verhältnis gebe. Michael Ku-
nitsch beispielsweise führte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts beide Begrif-
fe in seinem Grammatisch-orthographisches Wörterbuch der Homonyme der
Deutschen Sprache als geradezu klassische Homonyme: „Schuld, die, v. Z.
die - en, wenn man zum Ersatz einer Sache verbunden ist, z. B. Geldschuld.
Schuld, die, die - en, obgleich v. Z. meistens ungewöhnl. So viel als Ursache,
z. B. du bist Schuld daran; dann auch wirkliche Fehler und Vergehen, z, B. du
büßest eigene Schuld." (Kunitsch 1803, 2, 198) In NL 1880, KSA 9, [166], 239,
20-22 ist die Zusammenschau von Schuld und Schulden noch ein Wortspiel,
mit dessen Hilfe das sprechende „Wir" der Selbstdeutung und Selbstmodellie-
rung in moralisch-religiösen Begriffen entgeht: „Unsere Existenz so auffassen,
daß wir etwas dafür zu leisten haben — nicht als ,Schuld', aber als Vorschuß
und Schulden!" Die in 297, 22-25 geäußerte These, wonach culpa, die straf-
rechtliche, moralische, religiöse Schuld, und debitum, das materiell Geschulde-
te, voneinander abhängen (vgl. auch GM II 20, KSA 5, 329 f.), hätte N. in äu-
ßerster Komprimierung in Jacob Grimms Deutschen Rechtsalterthümern finden
können (Grimm 1828, 649) und hat es vielleicht gefunden in Paul Rees Die
Entstehung des Gewissens, wo Grimm wörtlich zitiert wird: „Schuld (culpa, de-
bitum) ist Bussfälligkeit." (Ree 1885, 104 = Ree 2004, 270) Leopold Schmidt
macht in seiner Ethik der alten Griechen darauf aufmerksam, dass die Griechen
Thukydides und Aristoteles zufolge die scheinbar rein moralische Tugend der
Dankbarkeit „unter dem Bilde eines Gläubigers und eines Schuldners zu be-
trachten" pflegten (Schmidt 1882b, 2, 308). Auch ohne wörtlichen Gleichklang
konnte N. der Nähe von ökonomischer und moralischer Verpflichtung bei sei-
nen Lektüren also in mannigfachen Kontexten begegnen. Vgl. auch Zavatta
2014, 278 zur Frage der Etymologie und Homonymie an dieser Stelle, sowie
Macho 2016 zum Fortwirken der in 297, 22-25 postulierten These im 20. und
21. Jahrhundert.
297, 25-298, 1 Oder dass die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen
abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwi-
ckelt hat? — und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr immer erst einer ho-
hen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Thier „Mensch" anfängt, jene
viel primitiveren Unterscheidungen „absichtlich" „fahrlässig" „zufällig" „zurech-
nungsfähig" und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe
in Anschlag zu bringen.] Überlegungen, die in eine ähnliche Richtung weisen,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften