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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0289
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270 Zur Genealogie der Moral

299, 23-27 Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, grösser
rechnender, römischerer Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzge-
bung Rom's dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger
in einem solchen Falle herunterschnitten] Die Lex duodecim tabularum oder das
Zwölftafelgesetz ist eine in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstandene
römische Rechtssammlung, die auf dem Forum Romanum mit zwölf Bronzeta-
feln publik gemacht wurde. Die dritte Tafel, von der der in 299, 27 f. mitgeteilte
Spruch stammt, behandelt das Schuldrecht. Auf die in NK 299, 19-23 zitierte
Passage aus Kohlers Das Recht als Kulturerscheinung folgt dort unmittelbar:
„Dem gegenüber war es eine Art Fortschritt, als die römischen XII Tafeln die-
sem unwürdigen Calcül damit ein Ende machten, dass sie bestimmten, es käme
in einem solchen /18/ Konkurrenzfalle nicht darauf an, ob der einzelne Gläubi-
ger ein grösseres oder kleineres Stück abhaue: die Gläubiger sollten den
Schuldner in Stücke hauen, wie sie möchten, die Details kümmerten die
Rechtsordnung nicht mehr: si plus minusve secuerunt, se fraude esto. Diese
Satzung der XII Tafeln blieb natürlich so lange unverstanden, als ihr welthisto-
rischer Zusammenhang unverstanden blieb" (Kohler 1885a, 17 f., N.s Unter-
streichungen, auf Seite 17 von ihm am Blattrand mit „NB" markiert, auf Seite
18 mit doppelter Anstreichung).
299, 27 f. „si plus minusve secuerunt, se fraude esto"] Lex duodecim tabularum
III 6: „Tertiis nundinis partis secanto. Si plus minusve secuerunt, se fraude
esto." („Am dritten Markttag sollen sie [die Gläubiger] sich die Teile wegschnei-
den. Wenn sie zu viel oder zu wenig weggeschnitten haben, soll das ohne
Nachteil sein.") Das „se" steht für „sine" = „ohne". Fälschlich heißt es in
KSA 5, 299, 27 f.: „ne fraude esto". Das ist ein Druckfehler; in der Erstausgabe
steht unmissverständlich: „se fraude esto" (Nietzsche 1887a, 51). In der zweiten
Auflage ist der Wortlaut noch korrekt (Nietzsche 1892, 51); erst von der neu
gesetzten, dritten Auflage an schleicht sich das falsche „ne" ein (Nietzsche
1894, 69), das fortan die meisten Ausgaben übernehmen - so auch KGW und
KSA, deren Textbestand offensichtlich nicht auf der Erst-, sondern einer Folge-
ausgabe gründet. Auch Übersetzer machen sich nicht die Mühe, einen Blick in
die Erstausgabe zu werfen, um stattdessen etwa forsch zu behaupten: „Nietz-
sche's quotation is not quite correct. Where he has ne fraude it should read se
[=sine] fraude" (Nietzsche 1998, 143), oder gar festzustellen, erst neuere Ausga-
ben des lateinischen Gesetzestextes würden die Variante mit „se" bieten (Nietz-
sche 2007, 41, Fn. 46). Derlei Anmerkungen sind symptomatisch für die philolo-
gische Fahrlässigkeit, mit der N. oft genug behandelt wird.
Den Rechtssatz selbst (in korrektem Wortlaut!) sowie den für GM II 5 rele-
vanten Bezug hat N. Kohlers Broschüre Das Recht als Kulturerscheinung ent-
 
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