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Stellenkommentar GM II 5, KSA 5, S. 299 271

nommen und dort unterstrichen, siehe NK 299, 23-27 (vgl. auch Kohler 1883,
8, Fn. 1 sowie 30-32, mitgeteilt bei Treiber 1993, 218-220).
299, 29-300, 1 Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen
den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in
Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art WohIgefühl als
Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, — das Wohlgefühl, seine Macht
an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen] Während in GM II 4,
KSA 5, 297, 16 f. gegen die modernen Moralgenealogen polemisiert wird, die
ihre persönlichen moralischen Intuitionen in die Vergangenheit projizieren
und sich der Historizität dieser Intuitionen eben nicht bewusst sind, wird in
GM II 5 eine psychologisierende Betrachtungsweise gewählt, die ein Wissen
suggeriert, das ein retrospektiver Betrachter schwerlich haben kann: Wie soll
man wissen können, welches „Wohlgefühl" einen Gläubiger vor Jahrhunderten
oder gar Jahrtausenden angewandelt hat, welchen „Genuss" (300, 2) er ver-
spürt hat? Wird an dieser Stelle jener modernistische Fehlschluss nicht auf
anderer Ebene reproduziert, der den moralgenealogischen Konkurrenten vor-
gehalten wurde: Warum sollte das Innenleben des Gläubigers damals genau
so funktioniert haben wie im 19. Jahrhundert?
Daraus ergibt sich die Frage, ob selbst unter der Annahme, dass alle von
GM II 5 beigebrachten historischen Informationen richtig und evident wären,
eine beispielsweise an Nützlichkeit orientierte Rekonstruktion der Grausam-
keitsökonomie nicht viel plausibler ist: Angenommen, die Gläubiger wären tat-
sächlich häufig so unerbittlich grausam verfahren, wie GM II 5 das schildert,
könnte dies doch vor allem geschehen sein, wie es 298, 32-299, 1 ausdrücklich
nahelegt, nämlich um ein Gedächtnis zu machen, d. h. für die künftige Rück-
zahlung der Schulden zu sorgen und eine abschreckende, gedächtnismachen-
de Wirkung zu erzielen bei denen, die noch keine säumigen Schuldner sind,
aber sehen, wie es säumigen Schuldnern ergeht. Die Grausamkeit würde dann
nichts mit irgendeiner schwer eruierbaren inneren Befindlichkeit wie „Wohlge-
fühl" bei den Gläubigern zu tun haben, sondern damit, dass sie nach Mitteln
und Wegen der Schuldner-Disziplinierung suchen. Die öffentlich ausgestellte
Grausamkeit erscheint äußerst nützlich, wenn es darum geht, Menschen an die
Kandare zu nehmen und sie bestmöglich auszubeuten. Aber müssen sowohl
Gläubiger als auch Schuldner nicht schon ein Gedächtnis haben, um über-
haupt Schuldverhältnisse eingehen zu können? Schließlich braucht es dafür
auf jeden Fall eine Vorstellung von Zukunft, von künftig relevant werdender
Verpflichtung. Und wie kommt der Gläubiger zu seinem Gedächtnis? Durch
das Trauma der Rückzahlungsverweigerung? Aber einen Begriff von Zeit, von
Zukunft muss er bereits haben, wenn er zum ersten Mal etwas verleiht - also
bereits vor einem möglichen Rückzahlungsverweigerungstrauma.
 
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