Stellenkommentar GM II 19, KSA 5, S. 326 365
forschung, wobei es auf das zu Beginn der Zweiten Abhandlung ins Zentrum
gestellte Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zurückkommt: In den „Urzeiten" (327,
19) sei das Verhältnis von Nachgeborenen zu ihren Ahnen ein Schuldverhältnis
als „juristische Verpflichtung" (327, 21 f.) gewesen, keineswegs „blosse Gefühls-
Verbindlichkeit" (327, 22), die es während der meisten Zeit in der Menschheits-
geschichte nicht gegeben habe. Die dieser Schuldvorstellung zugrundeliegen-
de Idee besteht darin, dass man alles, was man gegenwärtig darstelle, den
„Leistungen der Vorfahren" (327, 26) verdanke und man daher gehalten sei,
das in Form von strenger Traditionsbefolgung und von Opfern - auch und
gerade in Gestalt von Menschenopfern - auszugleichen. Dabei wüchsen die
„Fürcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht" (328, 10 f.) sowie das Schulden-
bewusstsein, je besser es den Nachfahren ginge, je machtvoller sie selbst da-
stünden, während beim Niedergang eines Geschlechts auch diese Ahnenfurcht
mit dahinschwände. Den „Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter" (328,
22 f.) habe man schließlich in den Rang eines Gottes erhoben. Überhaupt könne
hier der Ursprung von Göttern verborgen liegen, „ein Ursprung also aus der
Furcht!" (328, 28). In einer „mittlere [n] Zeit" (328, 32), die verstanden wird
als eine Epoche der Aristokratisierung, „in der die vornehmen Geschlechter
sich herausbilden" (328, 32 f.), habe dann auch eine „Veradligung und Verede-
lung der Götter" (329, 3 f.) stattgefunden.
GM II 19 gibt als gesicherte urgeschichtliche Erkenntnis aus, was bloße
Behauptung ist. Wie soll denn die angenommene Schuldverpflichtung zustan-
de kommen, wo die Ahnen doch offensichtlich nicht mehr da sind? Sicher,
irgendein Stamm mag in den Naturgewalten inkarnierte Ahnen sehen, die ihn
zu drangsalieren drohen. Jedoch stellt es für Menschen der „Urzeiten" (327, 19)
eine gewaltige Abstraktionsleistung dar, ausgerechnet in den Ahnen, die sich,
weil verstorben, den Gegenwärtigen entzogen haben, die eigenen Gläubiger zu
erkennen. Dass man sich den eigenen Eltern gegenüber in einem Schuldver-
hältnis wähnt, mag ja psychologisch plausibel sein, weil man ihnen sein Auf-
der-Welt-Sein verdankt, aber gegenüber etwas so Abstraktem wie den Ahnen,
die wir nicht mehr kennen und zu denen wir in keinem ,natürlich' empfindba-
ren Verhältnis stehen? Man mag Ahnenkulte mit N.s anthropologisch-ethnolo-
gischen Gewährsleuten oder heutigen Autoren in vielen oder sogar allen archa-
ischen Gesellschaften verbreitet finden (Assmann 2000, 34 argumentiert bei-
spielsweise, das Totengedenken sei die am weitesten verbreitete und
ursprünglichste Form der Erinnerungskultur). Daraus folgt aber nicht, dass
diese Kulte zwingend einen einzigen, festen Sinn, eben den des Gläubiger-
Schuldner-Verhältnisses gehabt haben müssten. Warum sollte ausgerechnet
dieser Sinn, der so weit in der Vergangenheit verortet wird, gerade nicht flüssig
gewesen sein dürfen? Vgl. zu GM II 19 im Horizont des Opfergedankens Bubbio
2008, 271-273.
forschung, wobei es auf das zu Beginn der Zweiten Abhandlung ins Zentrum
gestellte Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zurückkommt: In den „Urzeiten" (327,
19) sei das Verhältnis von Nachgeborenen zu ihren Ahnen ein Schuldverhältnis
als „juristische Verpflichtung" (327, 21 f.) gewesen, keineswegs „blosse Gefühls-
Verbindlichkeit" (327, 22), die es während der meisten Zeit in der Menschheits-
geschichte nicht gegeben habe. Die dieser Schuldvorstellung zugrundeliegen-
de Idee besteht darin, dass man alles, was man gegenwärtig darstelle, den
„Leistungen der Vorfahren" (327, 26) verdanke und man daher gehalten sei,
das in Form von strenger Traditionsbefolgung und von Opfern - auch und
gerade in Gestalt von Menschenopfern - auszugleichen. Dabei wüchsen die
„Fürcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht" (328, 10 f.) sowie das Schulden-
bewusstsein, je besser es den Nachfahren ginge, je machtvoller sie selbst da-
stünden, während beim Niedergang eines Geschlechts auch diese Ahnenfurcht
mit dahinschwände. Den „Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter" (328,
22 f.) habe man schließlich in den Rang eines Gottes erhoben. Überhaupt könne
hier der Ursprung von Göttern verborgen liegen, „ein Ursprung also aus der
Furcht!" (328, 28). In einer „mittlere [n] Zeit" (328, 32), die verstanden wird
als eine Epoche der Aristokratisierung, „in der die vornehmen Geschlechter
sich herausbilden" (328, 32 f.), habe dann auch eine „Veradligung und Verede-
lung der Götter" (329, 3 f.) stattgefunden.
GM II 19 gibt als gesicherte urgeschichtliche Erkenntnis aus, was bloße
Behauptung ist. Wie soll denn die angenommene Schuldverpflichtung zustan-
de kommen, wo die Ahnen doch offensichtlich nicht mehr da sind? Sicher,
irgendein Stamm mag in den Naturgewalten inkarnierte Ahnen sehen, die ihn
zu drangsalieren drohen. Jedoch stellt es für Menschen der „Urzeiten" (327, 19)
eine gewaltige Abstraktionsleistung dar, ausgerechnet in den Ahnen, die sich,
weil verstorben, den Gegenwärtigen entzogen haben, die eigenen Gläubiger zu
erkennen. Dass man sich den eigenen Eltern gegenüber in einem Schuldver-
hältnis wähnt, mag ja psychologisch plausibel sein, weil man ihnen sein Auf-
der-Welt-Sein verdankt, aber gegenüber etwas so Abstraktem wie den Ahnen,
die wir nicht mehr kennen und zu denen wir in keinem ,natürlich' empfindba-
ren Verhältnis stehen? Man mag Ahnenkulte mit N.s anthropologisch-ethnolo-
gischen Gewährsleuten oder heutigen Autoren in vielen oder sogar allen archa-
ischen Gesellschaften verbreitet finden (Assmann 2000, 34 argumentiert bei-
spielsweise, das Totengedenken sei die am weitesten verbreitete und
ursprünglichste Form der Erinnerungskultur). Daraus folgt aber nicht, dass
diese Kulte zwingend einen einzigen, festen Sinn, eben den des Gläubiger-
Schuldner-Verhältnisses gehabt haben müssten. Warum sollte ausgerechnet
dieser Sinn, der so weit in der Vergangenheit verortet wird, gerade nicht flüssig
gewesen sein dürfen? Vgl. zu GM II 19 im Horizont des Opfergedankens Bubbio
2008, 271-273.