366 Zur Genealogie der Moral
327, 5 f. eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist] Das klingt
wie ein widersprechendes Echo auf Carl Ernst Bocks Das Buch vom gesunden
und kranken Menschen, das N. zu selbsttherapeutischen Zwecken wohl gerne
konsultiert hat: „Man möchte es wirklich für ein Glück halten, daß viele Frau-
en, aber nur ihrer Schwächlichkeit wegen, das Unglück haben, einen großen
Theil der Zeit ihrer Hoffnung von Beschwerden befallen zu werden, die sie an
das Zimmer und eine vernünftige Lebensweise binden. Denn das glaube man
ja nicht etwa, daß die Schwangerschaft eine Krankheit sei und daß die damit
verbundenen Erscheinungen von Unwohlsein bestimmten Arzneimitteln wei-
chen könnten." (Bock 1870, 794). Die von Bock verneinte Frage, ob Schwanger-
schaft eine Krankheit sei, reicht bis in die Antike zurück - schon Aristoteles
soll sie als „Krankheit von neun Monaten" bezeichnet haben (Pierer/Choulant
1827, 7, 346). Zur systematischen Deutung der Schwangerschaftsmetaphorik in
GM II 19 siehe Gerhardt 2004, 84, Fn. 1.
327, 18-22 f. Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft — wir re-
den von Urzeiten — erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere
und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-begründende eine juristische
Verpflichtung an] „Geschlechtsgenossenschaft" ist ein Begriff, dem N. insbe-
sondere bei seiner Lektüre von Albert Hermann Post begegnet ist (siehe Brusot-
ti 1992b, 96, Fn. 28, ferner die in NK 307, 8-13 mitgeteilte Post-Stelle). „Es kann
als eine leidlich sicher begründete Thatsache bezeichnet werden, dass alle eth-
nische Individuenbildung ihren Ausgang genommen hat von einem Gebilde,
welches man als die ethnische Urzelle bezeichnen könnte. Dies Gebilde ist die
Stammmutter mit ihrer Nachkommenschaft, die primitive Geschlechtsgenos-
senschaft. Das Blutband ist der ursprüngliche Kitt, welcher alle ethnischen Bil-
dungen zusammenhält, und die primitivste ethnische Organisation schliesst
sich unmittelbar an den physiologischen Prozess der Geburt an, entspringt also
aus der tellurisch-organischen Natur des Menschen." (Post 1880-1881, 1, 40,
vgl. das Exzerpt NL KSA 10, 8[9], 330, 11-22 u. Stingelin 1991, 423). Bei der
archaischen Sozialisierungsform zu Beginn von GM II 19 scheint es sich um
eine derartige „primitive Geschlechtsgenossenschaft" zu handeln, deren sehr
einfache, auf die Blutsbande und die Blutrache ausgerichtete Funktionsweise
Post 1, 47 f. erklärt. Aber weder hier noch anderswo in Posts Text wird die
These von GM II 19 vorweggenommen, es gebe eine ursprüngliche, „juristische
Verpflichtung" gegenüber den Altvorderen und Vorfahren. Post 1880-1881, 1,
75 räumt zwar ein, „dass die Menschheit als tellurisch-organische Rasse sich
durch Fortpflanzung erhält, und dass diese Fortpflanzung ein organisches
Band von Generation zu Generation schlingt, durch welches der Mensch mit
seinen Vorfahren bis in die entlegensten Fernen zusammenhängt", folgert da-
raus aber keineswegs, dass sich deshalb in der Frühzeit die Menschen in der
327, 5 f. eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist] Das klingt
wie ein widersprechendes Echo auf Carl Ernst Bocks Das Buch vom gesunden
und kranken Menschen, das N. zu selbsttherapeutischen Zwecken wohl gerne
konsultiert hat: „Man möchte es wirklich für ein Glück halten, daß viele Frau-
en, aber nur ihrer Schwächlichkeit wegen, das Unglück haben, einen großen
Theil der Zeit ihrer Hoffnung von Beschwerden befallen zu werden, die sie an
das Zimmer und eine vernünftige Lebensweise binden. Denn das glaube man
ja nicht etwa, daß die Schwangerschaft eine Krankheit sei und daß die damit
verbundenen Erscheinungen von Unwohlsein bestimmten Arzneimitteln wei-
chen könnten." (Bock 1870, 794). Die von Bock verneinte Frage, ob Schwanger-
schaft eine Krankheit sei, reicht bis in die Antike zurück - schon Aristoteles
soll sie als „Krankheit von neun Monaten" bezeichnet haben (Pierer/Choulant
1827, 7, 346). Zur systematischen Deutung der Schwangerschaftsmetaphorik in
GM II 19 siehe Gerhardt 2004, 84, Fn. 1.
327, 18-22 f. Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft — wir re-
den von Urzeiten — erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere
und in Sonderheit gegen die früheste, geschlecht-begründende eine juristische
Verpflichtung an] „Geschlechtsgenossenschaft" ist ein Begriff, dem N. insbe-
sondere bei seiner Lektüre von Albert Hermann Post begegnet ist (siehe Brusot-
ti 1992b, 96, Fn. 28, ferner die in NK 307, 8-13 mitgeteilte Post-Stelle). „Es kann
als eine leidlich sicher begründete Thatsache bezeichnet werden, dass alle eth-
nische Individuenbildung ihren Ausgang genommen hat von einem Gebilde,
welches man als die ethnische Urzelle bezeichnen könnte. Dies Gebilde ist die
Stammmutter mit ihrer Nachkommenschaft, die primitive Geschlechtsgenos-
senschaft. Das Blutband ist der ursprüngliche Kitt, welcher alle ethnischen Bil-
dungen zusammenhält, und die primitivste ethnische Organisation schliesst
sich unmittelbar an den physiologischen Prozess der Geburt an, entspringt also
aus der tellurisch-organischen Natur des Menschen." (Post 1880-1881, 1, 40,
vgl. das Exzerpt NL KSA 10, 8[9], 330, 11-22 u. Stingelin 1991, 423). Bei der
archaischen Sozialisierungsform zu Beginn von GM II 19 scheint es sich um
eine derartige „primitive Geschlechtsgenossenschaft" zu handeln, deren sehr
einfache, auf die Blutsbande und die Blutrache ausgerichtete Funktionsweise
Post 1, 47 f. erklärt. Aber weder hier noch anderswo in Posts Text wird die
These von GM II 19 vorweggenommen, es gebe eine ursprüngliche, „juristische
Verpflichtung" gegenüber den Altvorderen und Vorfahren. Post 1880-1881, 1,
75 räumt zwar ein, „dass die Menschheit als tellurisch-organische Rasse sich
durch Fortpflanzung erhält, und dass diese Fortpflanzung ein organisches
Band von Generation zu Generation schlingt, durch welches der Mensch mit
seinen Vorfahren bis in die entlegensten Fernen zusammenhängt", folgert da-
raus aber keineswegs, dass sich deshalb in der Frühzeit die Menschen in der