Stellenkommentar GM II 22, KSA 5, S. 331 383
todtraurig, „die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet"
(333, 6 f.) habe. „Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!..." (333, 13 f.)
Nach GM II 22 hat es das Christentum also offensichtlich auf geradezu geni-
ale Weise geschafft, jene negativen Energien zu bündeln, die das zwangsweise
sozialisierte „Halbthier" aufgestaut und an sich selbst abreagiert hat. Ein aus-
geblendetes Problem dieser Darstellung ist der Umstand, dass der eine Vor-
gang, nämlich die zwangsweise Sozialisierung sich in ziemlich grauer Vorzeit
abgespielt haben soll, während das Christentum doch vermutlich viel später
auf den Plan getreten ist: Bis dahin hätte es wohl schon eine Menge Individuen
gegeben haben müssen, die von dem angeblich ja ganz plötzlichen Überwälti-
gungs- und Sozialisierungsschock (vgl. NK ÜK GM II 17) betroffen waren. Kurz-
um: Es müssten doch in den vielen Jahrhunderten, die dazwischen liegen,
schon passable Strategien entwickelt worden sein, mit denen die Triebinnenre-
gulierung hat bewerkstelligt werden können. Warum hat das Christentum als
welthistorischer Nachzügler dann eine solche Attraktivität gewinnen können?
Waren die Probleme der Domestizierten zu Zeiten des Römischen Kaiserreichs
denn tatsächlich noch dieselben wie in jener fernen Vergangenheit, als sich
politische Räume und Herrschaften überhaupt erst konstituierten?
Auffällig ist überdies die Empörung, in die die Sprecherinstanz sich hier
hineinsteigert und mit der sie die Sphäre der nüchtern-historischen Rekapitula-
tion verlässt. Das hat zum einen den Effekt, die in GM II 24 gleich bemühten
Griechen mit ihrer psychotechnischen Alternativprozedur umso wirkungsvoller
als Gegenmodell empfehlen zu können. Zum anderen verhindert die mit medi-
zinischem Vokabular kaschierte Empörungsrhetorik, dass die Leser auch die
Gegenrechnung aufmachen und sich fragen, welche anderen, positiven Effekte
eine entsprechende Entwicklung gehabt hat. Bei der Frühgeschichte von
Schuld und Gewissen waren die Leser immerhin darüber belehrt worden, dass
dadurch überhaupt erst so etwas wie eine Seele, ein Innenleben zustande ge-
kommen sei. Eine solche positive Würdigung versagt der Sprecher in GM II 22
dem christlichen Gewissensselbstquäler, um stattdessen auszurufen: „Im Men-
schen ist so viel Entsetzliches!..." (333, 12 f.) Als würde in GM sonst das Vorhan-
densein von Entsetzlichem, von Grausamkeit als Argument gegen eine Ent-
wicklung gelten lassen. Die Empfindlichkeitsbekundung, die Empörung gegen-
über dem Grausamen wirkt in GM II 22 seltsam aufgesetzt und ein wenig
misstönend.
Angesichts von so viel Verdruss über den angeblichen Triumph des
menschlichen Schuldbewusstseins darf man mit Peter Sloterdijk an eine Ge-
genlektüre der Moral- und Kulturgeschichte erinnern, die das typisch Moderne
moralgeschichtlich gerade darin sieht, „den Schuldner, zumal den großen,
mehr und mehr von der Verfolgung durch den Gläubiger" zu emanzipieren und
todtraurig, „die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet"
(333, 6 f.) habe. „Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!..." (333, 13 f.)
Nach GM II 22 hat es das Christentum also offensichtlich auf geradezu geni-
ale Weise geschafft, jene negativen Energien zu bündeln, die das zwangsweise
sozialisierte „Halbthier" aufgestaut und an sich selbst abreagiert hat. Ein aus-
geblendetes Problem dieser Darstellung ist der Umstand, dass der eine Vor-
gang, nämlich die zwangsweise Sozialisierung sich in ziemlich grauer Vorzeit
abgespielt haben soll, während das Christentum doch vermutlich viel später
auf den Plan getreten ist: Bis dahin hätte es wohl schon eine Menge Individuen
gegeben haben müssen, die von dem angeblich ja ganz plötzlichen Überwälti-
gungs- und Sozialisierungsschock (vgl. NK ÜK GM II 17) betroffen waren. Kurz-
um: Es müssten doch in den vielen Jahrhunderten, die dazwischen liegen,
schon passable Strategien entwickelt worden sein, mit denen die Triebinnenre-
gulierung hat bewerkstelligt werden können. Warum hat das Christentum als
welthistorischer Nachzügler dann eine solche Attraktivität gewinnen können?
Waren die Probleme der Domestizierten zu Zeiten des Römischen Kaiserreichs
denn tatsächlich noch dieselben wie in jener fernen Vergangenheit, als sich
politische Räume und Herrschaften überhaupt erst konstituierten?
Auffällig ist überdies die Empörung, in die die Sprecherinstanz sich hier
hineinsteigert und mit der sie die Sphäre der nüchtern-historischen Rekapitula-
tion verlässt. Das hat zum einen den Effekt, die in GM II 24 gleich bemühten
Griechen mit ihrer psychotechnischen Alternativprozedur umso wirkungsvoller
als Gegenmodell empfehlen zu können. Zum anderen verhindert die mit medi-
zinischem Vokabular kaschierte Empörungsrhetorik, dass die Leser auch die
Gegenrechnung aufmachen und sich fragen, welche anderen, positiven Effekte
eine entsprechende Entwicklung gehabt hat. Bei der Frühgeschichte von
Schuld und Gewissen waren die Leser immerhin darüber belehrt worden, dass
dadurch überhaupt erst so etwas wie eine Seele, ein Innenleben zustande ge-
kommen sei. Eine solche positive Würdigung versagt der Sprecher in GM II 22
dem christlichen Gewissensselbstquäler, um stattdessen auszurufen: „Im Men-
schen ist so viel Entsetzliches!..." (333, 12 f.) Als würde in GM sonst das Vorhan-
densein von Entsetzlichem, von Grausamkeit als Argument gegen eine Ent-
wicklung gelten lassen. Die Empfindlichkeitsbekundung, die Empörung gegen-
über dem Grausamen wirkt in GM II 22 seltsam aufgesetzt und ein wenig
misstönend.
Angesichts von so viel Verdruss über den angeblichen Triumph des
menschlichen Schuldbewusstseins darf man mit Peter Sloterdijk an eine Ge-
genlektüre der Moral- und Kulturgeschichte erinnern, die das typisch Moderne
moralgeschichtlich gerade darin sieht, „den Schuldner, zumal den großen,
mehr und mehr von der Verfolgung durch den Gläubiger" zu emanzipieren und