382 Zur Genealogie der Moral
der Sühneanspruch der gesammten Menschheit gegenüber nur dem Einen Got-
te zustehe; diesem Einen Gotte also musste sich Jesus als ablösendes Sühnop-
fer darbringen" (ebd., 96). „Jesus ist wirklich im N. T. das, was im alten stellver-
tretend das Osterlamm war: er ist das wahre Osterlamm." (Ebd., 95) Das Para-
doxe an den diversen Varianten der Erlösungs- und Opferlehre von Paulus
über Augustinus und Anselm von Canterbury bis zur Reformation besteht nach
der Implikation von GM II 21 gerade darin, dass sie ja eigentlich die völlige
Abgeltung der Schuld gegenüber Gott durch Christi Opfertod verheißt, faktisch
aber das Schuldgefühl mindestens verdoppelt, obwohl die Schuld angeblich
getilgt ist: Gott hat die Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch erlöst.
Ihre Dankbarkeit sollte keine Grenzen kennen: sie brüten schlechtes Gewissen
in übelster Form aus. Freilich tun sie das in GM II 21 doch offensichtlich bei
aufrechterhaltenem Gottesglauben und nicht, wie das Ende von GM II 20 und
der Beginn von GM II 21 nahelegen, aus einer von Glaubensinhalten abgelösten
Moralisierung heraus. Die Macht der Moralisierung jenseits religiöser Inhalte
zu zeigen bleibt GM II 21 schuldig.
22.
GM II 22 führt die beiden Stränge zusammen, die die Entstehung des schlech-
ten Gewissens in seinen extremen, nämlich christlichen und moralischen Aus-
prägungen erklären sollen: Die aus GM II 16 und 17 bekannte Hypothese von
der ur- oder frühgeschichtlichen Umleitung der Triebenergien bei unterworfe-
nen und zwangsweise sozialisierten Hominini wird kombiniert mit dem Ahnen-
und Gottschuldigkeitskomplex, den GM II 20 und 21 bis hinab ins Christentum
verfolgt haben. Eine gefährliche Mischung sei hier aufgetreten: Der zur Affekt-
ableitung nach außen Unfähige macht aus seinem Herzen eine Schlangengru-
be und adoptiert zu diesem Zwecke jenen Gott, demgegenüber er sich absolut
schuldig fühlen kann (zur Schwierigkeit, diese innerseelische Umpolung zu
verstehen, siehe Janaway 2009, 66). „Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke
wird ihm zum Folterwerkzeug." (332, 9 f.) Verbunden sei das gewesen mit einer
radikalen Verneinung des Eigenen, das als frevelhaft-fluchwürdige Opposition
gegen Gott verstanden wird, während dieser Gott wiederum als allmächtiges
und allgerechtes Gegenwesen zur eigenen Verworfenheit, zugleich als Lenker,
Richter und Henker, in hellstem Licht erstrahlt. Für dieses Phänomen hat der
Sprechende dann nur ins Verächtliche gewendete, pseudopsychiatrische Be-
griffe in petto: „Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit" (332, 22),
„Labyrinth von ,fixen Ideen"' (332, 28 f.), „Paroxysmen des Unsinns" (332, 34).
Das sei zwar alles „interessant bis zum Übermaass" (333, 3), aber zugleich auch
der Sühneanspruch der gesammten Menschheit gegenüber nur dem Einen Got-
te zustehe; diesem Einen Gotte also musste sich Jesus als ablösendes Sühnop-
fer darbringen" (ebd., 96). „Jesus ist wirklich im N. T. das, was im alten stellver-
tretend das Osterlamm war: er ist das wahre Osterlamm." (Ebd., 95) Das Para-
doxe an den diversen Varianten der Erlösungs- und Opferlehre von Paulus
über Augustinus und Anselm von Canterbury bis zur Reformation besteht nach
der Implikation von GM II 21 gerade darin, dass sie ja eigentlich die völlige
Abgeltung der Schuld gegenüber Gott durch Christi Opfertod verheißt, faktisch
aber das Schuldgefühl mindestens verdoppelt, obwohl die Schuld angeblich
getilgt ist: Gott hat die Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch erlöst.
Ihre Dankbarkeit sollte keine Grenzen kennen: sie brüten schlechtes Gewissen
in übelster Form aus. Freilich tun sie das in GM II 21 doch offensichtlich bei
aufrechterhaltenem Gottesglauben und nicht, wie das Ende von GM II 20 und
der Beginn von GM II 21 nahelegen, aus einer von Glaubensinhalten abgelösten
Moralisierung heraus. Die Macht der Moralisierung jenseits religiöser Inhalte
zu zeigen bleibt GM II 21 schuldig.
22.
GM II 22 führt die beiden Stränge zusammen, die die Entstehung des schlech-
ten Gewissens in seinen extremen, nämlich christlichen und moralischen Aus-
prägungen erklären sollen: Die aus GM II 16 und 17 bekannte Hypothese von
der ur- oder frühgeschichtlichen Umleitung der Triebenergien bei unterworfe-
nen und zwangsweise sozialisierten Hominini wird kombiniert mit dem Ahnen-
und Gottschuldigkeitskomplex, den GM II 20 und 21 bis hinab ins Christentum
verfolgt haben. Eine gefährliche Mischung sei hier aufgetreten: Der zur Affekt-
ableitung nach außen Unfähige macht aus seinem Herzen eine Schlangengru-
be und adoptiert zu diesem Zwecke jenen Gott, demgegenüber er sich absolut
schuldig fühlen kann (zur Schwierigkeit, diese innerseelische Umpolung zu
verstehen, siehe Janaway 2009, 66). „Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke
wird ihm zum Folterwerkzeug." (332, 9 f.) Verbunden sei das gewesen mit einer
radikalen Verneinung des Eigenen, das als frevelhaft-fluchwürdige Opposition
gegen Gott verstanden wird, während dieser Gott wiederum als allmächtiges
und allgerechtes Gegenwesen zur eigenen Verworfenheit, zugleich als Lenker,
Richter und Henker, in hellstem Licht erstrahlt. Für dieses Phänomen hat der
Sprechende dann nur ins Verächtliche gewendete, pseudopsychiatrische Be-
griffe in petto: „Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit" (332, 22),
„Labyrinth von ,fixen Ideen"' (332, 28 f.), „Paroxysmen des Unsinns" (332, 34).
Das sei zwar alles „interessant bis zum Übermaass" (333, 3), aber zugleich auch