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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0408
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Stellenkommentar GM II 23, KSA 5, S. 333-334 389

ten Verses hin, mit dem es durch einen Schrägstrich verbunden ist. Der Sinn
der Randbemerkung ist: Es ist ,nicht nur' so, daß für die alten Griechen die
Götter in Einzelfällen die Verantwortung für einige von den Menschen verübte
Übeltaten tragen können, sondern, die alten Griechen meinten, es sei in allen
Fällen so, ,nur' die Götter seien schuldig, nicht die Menschen selbst. Nietzsches
Einwand läuft also auf eine deutliche und zugleich kritische Radikalisierung
von Schmidts Text hinaus. In der Genealogie trägt Nietzsche zwar der Tatsache
Rechnung, daß in den homerischen Versen Zeus der Meinung, allein die Götter
seien schuldig, schließlich widerspricht. Zuletzt jedoch hebt Nietzsche den Un-
terschied zwischen den beiden im Zitat gegenübergestellten Ansichten auf".
Tatsächlich zielt GM II 23 darauf ab, aus einem einzigen Aspekt der griechi-
schen Religiosität - der in der herangezogenen Quelle, Homers Odyssee sogar
nicht einmal selbst in Erscheinung tritt, sondern negiert wird - auf den Charak-
ter dieser Religiosität insgesamt zu schließen - ein zumindest anfechtbares
Verfahren.
Dass es, wie in 334, 6 erwähnt, bei Zeus' zitierter Rede „um den Fall des
Ägisthos" geht, erwähnt Schmidt 1882b, 1, 232 unmittelbar nach den Homer-
Versen: „Das hieran geknüpfte Beispiel des Aegisthos ist so behandelt, dass
die Strafe als selbstverständlich mit der Sünde gegeben erscheint, eine Auffas-
sung, die sich auch in der Ausdrucksweise der mitgetheilten Verse spiegelt, in
welchen durch das für Uebel gewählte griechische Wort — KaKä — das morali-
sche und das als Folge aus ihm entstehende physische Uebel gleichmässig um-
fasst wird." (Zu Aigisthos ausführlich ebd., 1, 241.) Dieser Gesichtspunkt aber
scheint N. bei seiner Adaption weniger interessiert zu haben, während er den
folgenden Satz immerhin mit zwei kleinen Randstrichen markierte: „Einzelnen
Wendungen, welche jener Neigung die Sünde auf die Götter zurückzuführen
ihren Ursprung verdanken, begegnen wir in den homerischen Gedichten noch
mehrfach, wie wenn es in der Odyssee (19, 396) von Autolykos heisst, er sei von
Hermes mit Diebssinn und Meineid begabt worden, und wenn im neunzehnten
Buche der Ilias mehrmals (87. 137. 270) über die Sinnesbethörungen geklagt
wird, durch welche Zeus den Agamemnon veranlasst habe dem Achilleus sein
Ehrengeschenk zu entreissen." (Schmidt 1882b, 1, 232) Schmidt nivelliert diese
Beispiele, die Götter für menschliches Fehlverhalten verantwortlich zu ma-
chen; keinesfalls hätte er die Schlussfolgerung von GM II 23 gebilligt, es sei
eine generelle Tendenz griechischer Religiosität, den Göttern die Schuld an
menschlichem Tun aufzubürden. Dennoch muss er zugeben: „Indessen finden
sich auch mit Beziehung auf das Leben der Individuen Spuren der durch die
oben ausgehobene Stelle der Odyssee bezeugten Auffassung, nach der die Göt-
ter die Urheber des Schlechten sind, mehrfach noch lange nach Homer." (Ebd.,
1, 234, von N. mit Randstrich markiert.)
 
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