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390 Zur Genealogie der Moral

334, 17-22 „Thorheit", „Unverstand", ein wenig „Störung im Kopfe", so viel ha-
ben auch die Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sichzugelassen
als Grund von vielem Schlimmen und Verhängnissvollen: — Thorheit, nicht Sün-
de! versteht ihr das?...] Schmidt 1882b, 1, 233 hebt hingegen den Unterschied
zwischen Torheit und moralischer Verfehlung nicht auf und ist nicht geneigt,
die entsprechenden Selbstrechtfertigungsstrategien homerischer Protagonisten
als ernsthaften Ausdruck griechischer Frömmigkeit zu verstehen: „Vollends be-
deutungslos und nur aus den einmal angenommenen Sprachgewöhnungen zu
erklären ist der Ausdruck der Helena (Od. 4, 261), Aphrodite habe ihr Sinnesbe-
thörung gegeben und sie aus ihrem Vaterlande nach Troja entführt, denn sie
giebt in demselben Zusammenhänge ihre Reue unzweideutig zu erkennen und
ist weit entfernt ihre Schuld zu bemänteln; ähnlich steht es mit der verstellten
Selbstanklage des Telemachos, der sich Angesichts der von seiner Mutter zu
treffenden wichtigen Entscheidung zu grosser Heiterkeit zeiht und dabei sagt,
Zeus habe ihn sehr unverständig gemacht (Od. 21, 102). Auch unterscheiden
sich alle diese Aeusserungen nicht wesentlich von anderen, in welchen ein
bloss thörichtes, aber mit keinem sittlichen Makel behaftetes Verhalten der
Menschen dem Einflüsse eines Gottes zugeschrieben wird". Wenn GM II 23 sol-
che Stellen in ein anderes Licht rückt und bei den Griechen eine allgemeine
Tendenz zu erkennen wähnt, sich durch das Delegieren der Schuld an die Göt-
ter zu exkulpieren, steht dies in starker Spannung zum tragischen Bild der
Griechen, wie es N.s Frühwerk auch unter dem Eindruck Schopenhauers, na-
mentlich in GT entworfen hat: Dort ächzten die Menschen noch unter der
Schuldlast, war die menschliche Schuldverstrickung unaufhebbar geblieben
und kein Ausweg in Sicht, sich durch Götterprojektionen zu entschulden. Von
heiteren Griechen, wie sie in GM II 23 dank theologischer Entlastung ihre un-
vermutete Wiederauferstehung feiern, hätte dort keine Rede sein können. Eine
Synthese zwischen pessimistischen und optimistischen Griechen liefert dage-
gen FW Vorrede 4, wo das sprechende „Wir" ihnen attestiert, sich gerade aus
schmerzlicher Erkenntnis der Wahrheit an den schönen Schein gehalten zu
haben: „Diese Griechen waren oberflächlich - aus Tiefe!" (KSA 3, 352, 24 f.)
334, 29 f. „Es muss ihn wohl ein Gott bethört haben"] Vgl. Schmidt 1882b, 1,
233 (von N. mit Randstrich markiert): „einmal sagt Eumäos von Telemachos,
es müsse ihn einer der Götter oder einer der Menschen berückt haben, dass er
trotz der ihm bei seiner Rückkunft drohenden Nachstellungen der Freier die
Reise nach Pylos gewagt habe (Od. 14, 178)". So wenig Schmidt zur generalisie-
renden Sicht von GM II 23 geneigt ist, bringt er doch mannigfache Beispiele, die
das Argument dieses Abschnitts hätten stützen können. „Der Gedanke einer
bethörenden Verführung durch die Götter war aber einer geläuterten Modifica-
tion fähig, in welcher er bei den attischen Schriftstellern mehrfach vorkommt,
 
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