Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0410
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM II 24, KSA 5, S. 334 391

denn wiederholt wird von diesen die Ansicht ausgesprochen, dass die Götter
den Frevlern eine Verstandesverblendung zusenden, die sie der verdienten
Strafe entgegeneilen lässt." (Ebd., 1, 236) Schmidt konzediert überdies, „dass
die Begriffe Bethörung und Verschuldung sich so vielfach berühren" (ebd., 1,
239).
334, 31-335, 2 Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu
einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursa-
chen des Bösen — damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es
vornehmer ist, die Schuld...] Vgl. NK KSA 6, 271, 28-32.
24.
Nach dem in GM II 23 gegebenen Rückblick auf die Griechen und ihre angeb-
lich aller Gewissensqualen und Selbstquälerei ledigen Religion der Lebensbeja-
hung bricht mit GM II 24 die historische Rekonstruktion ab, um nach einer
Abschweifung zur nichtswürdig-nihilistischen Sprechergegenwart den Aus-
blick in die Zukunft zu wagen. Eingangs behauptet das „Ich", es „schliesse mit
drei Fragezeichen" (335, 4 - tatsächlich kommen in GM II 24 sieben Fragezei-
chen vor). Die erste Frage stellt freilich nicht das sprechende „Ich", sondern
die von ihm imaginierten Leser, ob nämlich hier „ein Ideal" (335, 5) errichtet
oder vielmehr zerstört werde. Anstatt zu antworten, fragt das „Ich" seine Leser,
ob sie sich „selber je genug gefragt" (335, 7) hätten, unter welchen ungeheuren
Kosten ein neues Ideal jeweils errichtet worden sei - man habe dazu die „Wirk-
lichkeit" verleugnen und die „Lüge" (335, 8 f.) heiligen müssen. „Damit ein
Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbro-
chen werden: das ist das Gesetz — man zeige mir den Fall, wo es nicht
erfüllt ist!..." (335, 11-14) Diese Behauptung klingt zunächst wiederum nach
einer nüchternen historischen Feststellung. Sie lässt sich jedoch auch als indi-
rekte Antwort auf die Publikumsfrage verstehen, ob in diesem Text denn ein
Ideal vernichtet oder aufgestellt würde. Ausbuchstabiert würde sie lauten -
und der Fortgang des Textes, der auf einen „erlösende[n] Menschen" (336,
16) ausblickt, der das alte Ideal vernichte und die Menschen mit der „Wirklich-
keit" (336, 20 u. 22 f.) versöhne, könnte dies beglaubigen -: Die Vernichtung
eines alten und die Errichtung eines neuen Ideals gehen Hand in Hand. Das
Pathos, zu dem sich GM II 24 aufschwingt, von den „Fragezeichen" abkom-
mend und schließlich in der pseudoprophetischen Verkündigung im Schluss-
satz (336, 25-32) gipfelnd, unterstreicht diese Texttendenz aufs Anschaulichste.
Trotzdem sind gegenläufige Tendenzen gleichfalls mit Händen zu greifen:
Wenn es tatsächlich so ist, dass bei jeder Idealerrichtung „Wirklichkeit" „ver-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften