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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0420
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Stellenkommentar GM III 1, KSA 5, S. 339 401

Mittel, sie deutlich als eine solche zu erkennen und zu diesem Zwecke sich
klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und absurd die meisten Mei-
nungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen, daher sie, an sich selbst,
keiner Beachtung werth sind" (Schopenhauer 1873-1874, 5, 378 f.). Allerdings
fehlt bei Schopenhauer das einleitende „quando", das in FW 330, KSA 3, 557,
31 wie im Original steht, so dass eine andere unmittelbare Inspirationsquelle
wahrscheinlicher ist, nämlich Leckys Sittengeschichte Europas: „Der Wunsch
nach Ruhm, besonders nach Nachruhm — die ,letzte Schwäche edler Geister' —
nahm einen ausserordentlichen Vorrang unter den Triebfedern des römischen
Heroismus ein" (Lecky 1879, 1, 166). Die zugehörige Fußnote 3 vermerkt: „Taci-
tus hatte sich dieses Ausdrucks vor Milton bedient: ,Quando etiam sapientibus
cupido gloriae novissima exuitur.' Hist., IV., 6."
339, 23-28 Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel
bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens
aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, — und eher will er noch das
Nichts wollen, als nicht wollen.] Zunächst fällt auf, dass sich der Plural der
asketischen Ideale aus dem Titel der Dritten Abhandlung und der Eingangsfra-
ge von GM III 1 zu einem Singular verdichtet, als ob es nur noch ein einziges
asketisches Ideal in womöglich unterschiedlicher Erscheinungsform gäbe. So-
dann sticht ins Auge, dass das in 339, 23-28 Behauptete keineswegs aus dem
bis dahin Gesagten folgt, wollen demzufolge doch die genannten Personen-
gruppen mit ihren asketischen Idealen (im Plural!) ganz Unterschiedliches -
sie wollen z. B. Geistigkeit optimieren, sie wollen verführen, sie wollen Macht
gewinnen etc. Hiergegen wird eine allgemeine Hypothese über die Struktur des
Willens formuliert - nämlich, dass er stets etwas wollen müsse und nicht nicht
wollen könne, ohne aufzuhören, Wille zu sein. Deswegen müsse dieser Wille
noch eher das Nichts wollen, wenn er sonst keinen Gegenstand findet. Insinu-
iert, aber bewusst nicht ausgeführt und dargestellt, sondern im Modus der Rät-
selhaftigkeit belassen wird eine Verbindung zwischen dem asketischen Ideal
im Singular und dem Wollen des Nichts, das sich paradoxerweise einem „hor-
ror vacui", einer Angst vor der Leere, dem Nichts verdanke: Es scheint, als ob
die Leser zur Folgerung kommen sollten, in diesem asketischen Ideal bringe
sich der Wille zum Nichts zum Ausdruck, unabhängig davon, was bestimmte
Menschengruppen sonst noch damit im Sinne haben. Diese Folgerung wäre
durch das Vorangegangene nicht gedeckt, dem zufolge asketische Ideale den
genannten Lebensformen zur Fokussierung dienen - der Notwendigkeit gehor-
chend, vieles auszublenden, um Bestimmtes zu bekommen, eben nicht alles
zu wollen, sondern nur etwas.
Der letzte Satz von GM nimmt den Gedanken noch einmal auf, dass der
menschliche Wille so strukturiert sei, dass er „eher noch das Nichts" will
 
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