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402 Zur Genealogie der Moral

als „nicht" zu wollen. Damit schließt der Sprecher - nachdem er einen großen
Bogen gespannt hat - die ausführliche Explikation der Bedeutung asketischer
Ideale ab (GM III 28, KSA 5, 412, 14-16). Die Frage nach der Möglichkeit, dass
der Wille nicht oder Nichts will, steht im Horizont der Willensmetaphysik Scho-
penhauers, der ja die Möglichkeit der Willensverneinung als asketischen Erlö-
sungsweg für möglich und wünschenswert erachtet hatte. Aus der Perspektive
von GM III 1 und GM III 28 hätte Schopenhauer dabei aber verkannt, dass diese
Willensverneinung gleichfalls eine Willensäußerung ist, während die eigentli-
che Willensverneinung als Nicht-Wollen unmöglich sei, so dass man - wie die
religiösen und metaphysischen Asketen aller Zeiten - stattdessen das Nichts-
Wollen anstrebte. GM III 1 und III 28 postulieren, dass sich der Wille nicht so
weit verleugnen könne, nichts mehr zu wollen - stattdessen strebe er auch in
der Askese ein „Ziel" an, das Nichts. Ausgeblendet bleibt in dieser Erörterung
die fundamentale Kritik am Konzept des Willens, wie sie JGB 19 gerade auch
gegen Schopenhauer vorgebracht hat. Ihr zufolge ist der Wille eben nichts Ein-
faches, sondern etwas Zusammengesetztes, vgl. NK 5/1, S. 182-190. Vor diesem
Hintergrund könnte sich die Formel vom Nicht-Wollen und Nichts-Wollen des
Willens als eine unangemessen vereinfachende Metapher für sehr viel kompli-
ziertere und uneindeutigere Sachverhalte erweisen.
339, 26 horror vacui] Lateinisch: „Furcht, Scheu vor der Leere". Die Wendung,
die in N.s veröffentlichtem Werk nur an dieser Stelle vorkommt, stammt aus
der Scholastik und schreibt der Natur die aktive Eigenschaft zu, vor der Leere
zurückzuschrecken (vgl. zur Begriffsgeschichte ausführlich Krafft 1974).
339, 27-30 — Versteht man mich?... Hat man mich verstanden?... „Schlech-
terdings nicht! mein Herr!" — Fangen wir also von vorne an.] Vgl. NK
KSA 6, 371, 15. Wilcox 1998, 448, Fn. 6 argumentiert gegen Janaway 1997, dieser
Kurzdialog am Ende von GM III 1 gehöre nicht zum „Aphorismus", dessen Aus-
legung GM Vorrede 8, KSA 5, 255, 31-256, 2 ankündigt, sondern stelle bereits
den Übergang zum „Commentar" (256, 2) dar. Man kann freilich daran zwei-
feln, ob die Frage, was von GM III 1 ganz genau zum auslegungsbedürftigen
„Aphorismus" gehöre, wirklich relevant ist, denn dieser kam ja ohnehin erst
nach dem „Commentar", der Auslegung, hinzu. Klar ist, dass der Kurzdialog
339, 27-30 den Übergang zur Auslegung markiert und rechtfertigt, was jetzt
folgt. Textgenetisch stellt der nachträglich vorangestellte „Aphorismus" die
nachträgliche Verrätselung und Verknappung eines bereits ausführlich Gesag-
ten dar.
Das „Ich" taucht in 339, 28 über das Personalpronomen im Akkusativ
„mich" erstmals in GM III 1 auf. In 339, 29 gibt es dann ein eingemeindendes
„Wir", das den zunächst verständnislosen Leser einschließt.
 
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