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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0446
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Stellenkommentar GM III 6, KSA 5, S. 347 427

Gemüths, keine Anstachelung oder Sättigung des Willens, ein reines, von jeder
egoistischen Begehrlichkeit ungetrübtes und insofern, wie Kant sagt, interesse-
loses Wohlgefallen an der Anschauung [von N. am Rand mit Ausrufezeichen
markiert], nicht an der Existenz des Objects; das selbstsüchtige Haben- und
Ergreifenwollen schweigt, die bloße Contemplation, die pietätsvolle Vertiefung
in die Erscheinung des Gegenstandes; das seiner selbst vergessende Hinsehen,
Betrachten, Hinhören, Lauschen und Auffassen entzückt" (Liebmann 1880,
580, N.s Unterstreichungen, zu Beginn und zum Ende Randstriche von seiner
Hand). Zum Thema der Interesselosigkeit in der Ästhetik siehe neben GM III 12,
KSA 5, 364, 30 f. v. a. NK KSA 5, 52, 2-14.
347, 12 f. Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt]
Französisch: „ein Glücksversprechen". Vgl. NL 1884, KSA 11, 25[154], 54. Stend-
hal schreibt in Rome, Naples et Florence: „Je sors du casin de San Paolo. De ma
vie je n'ai vu la reunion d'aussi belles femmes; leur beaute fait baisser les yeux.
Pour un Frangais, elle a un caractere noble et sombre qui fait songer au bon-
heur des passions bien plus qu'aux plaisirs passagers d'une galanterie vive
et gaie. La beaute n'est jamais, ce me semble, qu'une promesse de bonheur."
(Stendhal 1854b, 30, in N.s Exemplar mit Eselsohr markiert. „Ich komme aus
dem Casino von San Paolo. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine
Versammlung von so schönen Frauen gesehen; ihre Schönheit lässt einen die
Augen niederschlagen. Für einen Franzosen hat sie einen vornehmen und
dunklen Charakter, der viel mehr an das Glück der Leidenschaften als an die
vergänglichen Freuden einer lebhaften und lustigen Galanterie denken lässt.
Die Schönheit, so scheint mir, ist niemals mehr als ein Glücl<sversprechen.").
Der Anlass, über das Schöne als Glücksversprechen nachzudenken, ist also
nicht die Betrachtung von Kunstschönem, sondern die Begegnung mit schönen
Frauen (vgl. Thatcher 1989, 594 u. Reginster 2014, 35. Ridley 2011 blendet also
diesen Kontext aus, wenn er argumentiert, N. lehne in GM III 6 sowohl die
selbstvergessene Konzeption des Schönen bei Kant als auch letztlich diejenige
Stendhals als sklavenmoralisch kontaminiert ab, um stattdessen Schönheit mit
einer erotisch konnotierten, intensiven Bejahungserfahrung zu assoziieren, die
das Selbst in den Mittelpunkt stelle. Gerade diese erotische Komponente steht
ja im Mittelpunkt der Stendhal-Stelle. Dennoch nimmt Nehamas 2010, 63
Stendhals Definition als Ausgangspunkt seiner Verteidigung des Schönen in
der Kunst, während Adorno mit ihr kalauert: „Kunst ist das Versprechen des
Glücks, das gebrochen wird." Adorno 1970, 205, vgl. Jauslin 2002, 81).
347, 13-16 Hier ist jedenfalls gerade Das abgelehnt und ausgestrichen, was
Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le desinteressement.] In
KSA 5, 347, 15 f. wird stillschweigend korrigiert zu „desinteressement", obwohl
 
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