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426 Zur Genealogie der Moral

347, 5-11 und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitio-
nen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen giebt,
der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von
Grundirrthum sitzt. „Schön ist, hat Kant gesagt, was ohne Interesse gefällt."
Ohne Interesse!] Die von N. zitierte „Definition" stellt kein authentisches Kant-
Zitat dar. Vielmehr handelt es sich um die Verknappung wesentlich elaborierte-
rer Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft wie: „Schön ist das, was in der
bloßen Beurtheilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach
einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne
alles Interesse gefallen müsse." (AA V, 267) Die Überschrift zum Geschmacksur-
teil lautet: „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist
ohne alles Interesse." (AA V, 204) Was N. als vermeintlichen Kant-Wortlaut in
Anführungszeichen setzt, beruht vielmehr auf einer Zusammenfassung von
Kants Ästhetik in der von ihm studierten Kant-Darstellung aus Kuno Fischers
Geschichte der neuern Philosophie sowie aus Otto Liebmanns von N. gleichfalls
durchgearbeitetem Werk Zur Analysis der Wirklichkeit. In beiden Fällen ste-
hen - zur Hervorhebung - Anführungszeichen, die wiederum ein Kant-Zitat
suggerieren könnten, um das es sich aber nicht handelt: „Fassen wir alles in
eine Erklärung zusammen, so ergiebt sich die kantische Definition des Schö-
nen: ,Schön ist, was ohne Interesse allen durch seine bloße Form nothwendig
gefällt'." (Fischer 1882, 4, 437) Was Interesselosigkeit bei Kant bedeutet, erläu-
tert Fischer 1882, 4, 426: „Wenn mir ein Gegenstand ohne alles Interesse ge-
fällt, so mischt sich in dieses Wohlgefallen keine Art der Begierde, kein Bedürf-
niß und keine Regung des Willens, ich will von dem Gegenstände nichts haben
oder mit ihm vornehmen, ich bezwecke nichts mit ihm oder durch ihn, ich
will ihn weder genießen noch brauchen, weder erkennen noch verwirklichen,
sondern bloß betrachten. In der reinen Betrachtung verstummt jede Begier-
de und Willensunruhe." Dieses Moment der „Betrachtung" ist wiederum das,
was GM III 6 polemisch unter „Zuschauer" fasst, vgl. NK 346, 27-32. Bei Lieb-
mann klingt es ähnlich, wenn er schreibt, Kant habe auf die Frage, wodurch
„das ästhetische Wohlgefallen in uns" sich „von jedem anderen Lustgefühl"
unterscheide, geantwortet: „,Schön, zum Unterschied von dem bloß sinnlich
Angenehmen, ist, was ohne Interesse wohlgefällt', will sagen: ohne unse-
re Begehrlichkeit zu reizen: Gewiß zutreffend! Nur mag man zur Vermeidung
des Mißverständnisses, als bedeute jenes ,ohne Interesse' soviel wie ,was uns
ganz kühl läßt', den Satz mit Vischer genauer dahin interpretiren: Das Schö-
ne ergreift den Empfänglichen in tiefster Seele, erschüttert, rührt, aber dem
Interesse ist sein Stachel entrissen, weil uns das Schöne für die Existenz des
Gegenstandes gleichgültig läßt. [Auf Höhe dieser Zeile am Rand von N.s Hand:
„oh!"] In der That, der ästhetische Genuß ist eine Erhebung und Veredlung des
 
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