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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0448
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Stellenkommentar GM III 6, KSA 5, S. 347 429

Aber der eigentliche Adressat als einer „unsre[r] Aesthetiker" ist an dieser
Stelle in GM III 6 Otto Liebmann, der behauptet: „In der Interesselosigkeit liegt
ein subjectives Kriterium der Schönheit. Ein eminentes Beispiel liefern die
nackten und halbbekleideten Statuen der hellenischen Plastik. Nie wird von
jenen ewigen Meisterwerken die Sinnlichkeit angereizt, wie von den lüstern
lächelnden, coketten Phrynen französischer Hetärenmaler, bei denen gerade
der zudringliche Reiz, die lascive Anlockung entschieden widerwärtig und af-
frös einwirkt, - nämlich auf das ästhetische Gefühl. Da betrachte man die
Aphrodite des /582/ Praxiteles oder die Venus von Milo, — wie keusch und edel
diese herrlichen Göttergestalten, obwohl jene ganz nackt ist, und dieser das
Gewand von den Hüften gleitet! Es fehlt diesen vollendeten Formen eben ganz
und gar jede Frivolität und Lüsternheit; sie flößen Respect ein, sie sind umge-
ben von einem unsichtbaren Heiligenschein und Noli me tangere! Man genießt
in der reinen Anschauung und denkt nicht, wie bei einer mit Delicatessen be-
setzten Tafel, an etwas Anderes." (Liebmann 1880, 581f.)
In der berühmtesten Version der antiken Pygmalion-Sage, die bei Ovid:
Metamorphosen X 243-297 überliefert ist, erschafft der misogyn gewordene
Bildhauer eine Frauenstatue, die so menschenähnlich aussieht, dass er sich in
sie verliebt und Venus durch ein Opfer dazu bringt, sie zum Leben zu erwe-
cken. Der Künstler hat also nach diesem Mythos das Gegenteil von einem inte-
resse- und leidenschaftslosen Verhältnis zu seinem Werk. Zu Pygmalion und
Willensverzicht in GM III 6 siehe Moore 2002a, 106 f., zur Wirkungsgeschichte
dieser Passage siehe Riedl 2005, 385.
347, 23-28 Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker, wel-
che sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kanten zu
Ehren an, was er über das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässiger
Naivetät zu lehren weiss!] In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hat
Kant 1798 ein Kapitel (Erster Theil, Erstes Buch, § 17) „dem Sinne der Betas-
tung" gewidmet: „Der Sinn der Betastung liegt in den Fingerspitzen und den
Nervenwärzchen (papillae) derselben, um durch die Berührung der Oberfläche
eines festen Körpers die Gestalt desselben zu erkundigen. - Die Natur scheint
allein dem Menschen dieses Organ angewiesen zu haben, damit er durch Be-
tastung von allen Seiten sich einen Begriff von der Gestalt eines Körpers ma-
chen könne; denn die Fühlhörner der Insecten /155/ scheinen nur die Gegen-
wart desselben, nicht die Erkundigung der Gestalt zur Absicht zu haben. -
Dieser Sinn ist auch der einzige von unmittelbarer äußerer Wahrnehmung;
eben darum auch der wichtigste und am sichersten belehrende, dennoch aber
der gröbste: weil die Materie fest sein muß, von deren Oberfläche der Gestalt
nach wir durch Berührung belehrt sollen. (Von der Vitalempfindung, ob die
Oberfläche sanft oder unsanft, viel weniger noch, ob sie warm oder kalt anzu-
 
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