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430 Zur Genealogie der Moral

fühlen sei, ist hier nicht die Rede.) - Ohne diesen Organsinn würden wir uns
von einer körperlichen Gestalt gar keinen Begriff machen können, auf deren
Wahrnehmung also die beiden andern Sinne der ersteren Classe ursprünglich
bezogen werden müssen, um Erfahrungserkenntniß zu verschaffen." (AA VII,
154 f.)
Die eigentliche Inspirationsquelle scheint aber wiederum nicht eine Kant-
Originallektüre gewesen zu sein, sondern eine Fußnote in Otto Liebmanns Zur
Analysis der Wirklichkeit. Im Haupttext wird vom Geruchs-, Geschmacks- und
Tastsinn gesagt: „Die drei zuletzt genannten Sinne dienen dem thierischen,
/577/ materiell consumirenden Genuß, der gemeinen Lebensnahrung und
Nothdurft, schlimmeren Falls der viehischen Völlerei und Wollust; sie sind Sin-
ne des animalischen Bedürfnisses, der positiven und negativen Begehrlichkeit;
ihre Sensationen erregen entweder physiologischen Lustkitzel und Appetit
oder rein sinnlichen Abscheu. Gesicht und Gehör nehmen einen weit vorneh-
meren Rang ein, stehen zum thierischen Genus, nur in sehr indirecter Bezie-
hung; ihre Annehmlichkeiten sind vorwiegend intellektueller, nicht grob sinn-
licher Art." (Liebmann 1880, 576 f.) Und dazu lautet die Fußnote: „Wenn Kant,
in der Anthropologie § 14, den Schnitt anders zieht, wenn er den Tastsinn
sammt dem Gesicht und Gehör in die Klasse der objectiven, d. h. mehr der
intellectuellen Auffassung als dem organischen Genuß dienenden Sinne rech-
net, so macht dies zwar der Keuschheit seines Empfindens alle Ehre. Aber rich-
tiger, wiewohl cynischer, urtheilt John Owen" (Liebmann 1880, 577, Fn. Von
N. mit Randstrich, „NB" und Ausrufezeichen markiert, seine Unterstreichung).
Der von Liebmann aufgerufene § 14 entspricht in der Akademie-Ausgabe § 16;
er lautet: „Der Organsinne aber können füglich nicht mehr oder weniger als
fünf aufgezählt werden, so fern sie sich auf äußere Empfindung beziehen. /
Drei derselben aber sind mehr objectiv, als subjectiv, d. i. sie tragen als empiri-
sche Anschauung mehr zur Erkenntniß des äußeren Gegenstandes bei,
als sie das Bewußtsein des afficirten Organs rege machen; zwei aber sind mehr
subjectiv als objectiv, d. i. die Vorstellung durch dieselbe ist mehr die des Ge-
nusses, als der Erkenntniß des äußeren Gegenstandes; daher über die erstere
man sich mit Anderen leicht einverständigen kann, in Ansehung der letzteren
aber bei einerlei äußerer empirischer Anschauung und Benennung des Gegen-
standes die Art, wie das Subject sich von ihm afficirt fühlt, ganz verschieden
sein kann. / Die Sinne von der ersteren Classe sind 1) der der Betastung
(tactus), 2) des Gesichts (yisus), 3) des Gehörs (auditus). - Von der zweiten
a) des Geschmacks (gustus), b) des Geruchs (olfactus)" (AA VII, 154).
347, 28-348, 6 Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz
andrem Maasse als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann
der Kantischen Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand ist
 
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