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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0460
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Stellenkommentar GM III 8, KSA 5, S. 351 441

Version der Devise nimmt dann MA II VM 26, KSA 2, 391, If. auf. Die spätere
Variante in GM III 27 hat einen darwinistischen Zungenschlag: Leben - auch
das philosophische Leben! - ist Leben auf Kosten von anderem Leben und
nimmt dessen Untergang nicht nur in Kauf, sondern verwirklicht in dessen
Verdrängung den eigenen Willen zur Macht.

8.
Dieser lange Abschnitt - er ist nach GM III 17 der zweitlängste in GM über-
haupt - nimmt zunächst die Philosophen so distanziert in den Blick, als gingen
sie den Sprechenden eigentlich nichts an. Sie seien „keine unbestochnen Zeu-
gen und Richter über den Werth des asketischen Ideals" (351, 29 f.), während
der Leser aus seiner sonstigen Lektürepraxis leicht zu folgern geneigt sein
wird, das hier sprechende, moralgenealogisierende „Ich" werde für sich selbst
eine solche unbestechliche Zeugen- und Richterschaft reklamieren. Zu Beginn
hält sich diese abgeklärte Außenperspektive auf den Umgang der Philosophen
mit den asketischen Idealen durch, bis sich dann nach knapp zwei Druckseiten
das sprechende „Ich" in einer Klammer seines Freiluft-Studierzimmers in Vene-
dig entsinnt, nämlich des Markusplatzes, just an der Stelle, wo er über die
Rückzugsorte spricht, die den Philosophen eine „,Wüste"' (352, 25 u. ö.) zu
ungestörtem Denken gewährten. Und außerhalb der Klammer folgt ein inklu-
dierendes „wir" (353, 23) - „denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor
Einem Ruhe: vor allem ,Heute'" (353, 26 f.). Das „Ich" spricht also durchaus in
eigener Sache - und man könnte mutmaßen, es sei dabei nicht so unbefangen,
wie es den Anschein erweckt. Denn nach GM III 8 ist der Philosoph ein Wesen,
das mit sich im Reinen ist, wenn es seinem dominierenden Interesse gehorcht,
alles Störende abzuwehren. Im Unterschied zum Künstler mit seinem Lavieren
in Sachen des asketischen Ideals verkörpert der Philosoph damit einen Typus,
der ganz auf eigenen Füßen stünde und nur sich selbst gegenüber rechen-
schaftspflichtig wäre. Dieser Gegensatz des Philosophen zum Künstler von
GM III 5 ist zwar wirkungsvoll in Szene gesetzt, jedoch nicht leicht mit all dem
Spott unter einen Hut zu bringen, der bei N. sonst oft über seine psychisch und
geistig angeblich verunglückten Zunftgenossen von Sokrates bis Schopenhau-
er, von Platon bis Kant ausgegossen zu werden pflegt.
Jedenfalls erscheinen die Philosophen als radikale Sachwalter ihres eige-
nen Interesses, das sich im Ungestört-Sein realisieren kann, in Irritationsfrei-
heit, die äußere Ablenkung ebenso betrifft wie die eigene Sinnlichkeit - „Ruhe
in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von
Feindschaft und zotteliger Rancune; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes;
 
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