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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0461
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442 Zur Genealogie der Moral

bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern"
(352, 5-8). Dabei ließen sich „die drei großen Prunkworte des asketischen Ide-
als", nämlich „Armuth, Demuth, Keuschheit" (352, 12-14) bei den fruchtbaren
Geistern durchaus verwirklicht finden, ohne dass es, wie das „Ich" zu betonen
nicht müde wird, um so etwas wie „Tugend" gehe. Im Fortgang von GM III 8
soll gerade das plausibel gemacht werden. Um die relative Armut der Philoso-
phen und ihre mannigfachen „Wüsten" geht es von 352, 31 bis 354, 21, um die
Demut von 354, 21 bis 355, 13, schließlich um die Keuschheit von 355, 13 bis
356, 11. Zunächst werden innere Konflikte auch nicht ausgeschlossen. Es könne
durchaus sein, dass die „dominirende Geistigkeit" (352, 22) ihre Dominanz ge-
genüber anderen „Instinkten" (352, 29) erst habe durchsetzen müssen. Das
habe mit „,Tugend"' (352, 31) nichts zu tun. Die „starken, unabhängig gearteten
Geister" (352, 32 f.) - sie werden umstandslos mit den Philosophen identifiziert,
bei denen es sich also nicht um die durchschnittlichen Philosophieprofessoren
oder philosophischen Arbeiter handeln dürfte (vgl. NK 5/1, S. 557 f., 593 u. 595-
597) - sind Wüstenvirtuosen, wobei Wüsten gar nicht das sind, was sich das
nach Theatralität lüsterne Publikum darunter vorstellt: pathetische Sandland-
schaften unter sengender Sonne. Die Wüsten, von denen GM III 8 spricht, sind
vielmehr die Einsamkeitsidyllen, die sich der geistig Schöpferische schafft:
„Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich sel-
ber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt, ein
Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als an's Licht stellt; ein Umgang gelegentlich
mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel, dessen Anblick erholt" (353, 6-
11). Vor allem sich aus den Zwängen des Heute freizumachen, zeichnet die
selbstgewählte philosophische Armut aus, die heitere Stille, die leise Stimme
gegen alle laut und schrill Agierenden und Agitierenden. Der Philosoph gehe
„dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen" „aus dem Wege" (354, 17).
Seine Demut zeige sich in der Bereitschaft, „auch eine gewisse Abhängig-
keit und Verdunkelung" (354. 22 f.) in Kauf zu nehmen, Demut ebenso im Hin-
blick auf Wahrheitsansprüche oder gar im Hinblick darauf, für die Wahrheit
sein Leben zu lassen. Keuschheit schließlich gründe darin, dass die Fruchtbar-
keit des Philosophen eben in etwas ganz anderem liege als im sexuellen Fort-
pflanzungsvermögen. Mit „Sinnenhass" (355, 20) habe das beim Philosophen
ebenso wenig zu tun wie im Fall des enthaltsamen Hochleistungssportlers. Wie
beim Künstler absorbiere der Instinkt, ein Werk hervorzubringen, alle anderen,
schwächeren Kräfte.
Abschließend kommt das sprechende „Ich" noch einmal auf Schopenhau-
er zurück: Bei ihm habe die Schönheitserfahrung offenbar als Auslösungsreiz
auf die „Hauptkraft seiner Natur" (355, 34) eingewirkt, sie zur Explosion
gebracht, so dass sie dann dominant geworden sei. Damit werde, heißt es wei-
 
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