Stellenkommentar GM III 8, KSA 5, S. 351 443
ter, nicht ausgeschlossen, dass die ästhetische Empfindung aus der „,Sinnlich-
keit'" (356, 6), also aus der Geschlechtlichkeit hervorgehe und damit, entgegen
Schopenhauers Beteuerung, keineswegs in der ästhetischen Anschauung „auf-
gehoben" (356, 9), sondern nur umgewandelt sei. Das verspricht das „Ich" bei
anderer Gelegenheit in einer „Physiologie der Ästhetik" (356, 14) weiter
zu erörtern.
Überblickt man GM III 8, so überrascht, mit welcher Leidenschaft darin die
Weltunabhängigkeit der philosophischen Lebensform verfochten wird. Jeder
nähere Weltbezug erscheint nur noch als Belastung, weil der Philosoph ja sein
Werk schaffen soll, das er offensichtlich irgendwie souverän aus sich selbst
heraus gebiert. Aber wie darf man sich die diesem Gebären vorausgehende
jungfräuliche Empfängnis und Schwangerschaft des Philosophen vorstellen?
Was für ein Bild von Philosophie kommt hier zum Tragen? Philosophie als
Kommunikationsverweigerung, gerade nicht sokratisch-dialogisch, sondern
völlig selbstbezüglich, autistisch ,aristokratisch'? Immerhin war N. die gemein-
same kommunikative Erzeugung philosophischer Gedanken im Gespräch etwa
aus seiner Beziehung zu Lou von Salome durchaus geläufig. Aber er scheint
das, wenn GM III 8 dafür Zeugnis ablegen kann, als Scheitern und nicht als
Modell empfunden zu haben.
Der Philosoph bedient sich seiner „Wüste", nur als Mittel, nie als Zweck.
Anders lässt sich Autonomie für ihn nicht realisieren. Einerseits liegt im Selbst-
gesetzgebungsstreben, in der Unabhängigkeit des Philosophen von allem Welt-
lichen etwas sehr Kantianisches. Andererseits, und das ist die Pointe, ist Auto-
nomie dem Philosophen nach Maßgabe von GM III 8 nur möglich, wenn er die
anderen Menschen immer nur als Mittel ansieht und nie als Zweck, also gegen
die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs verstößt. Ebenso wird die
Verallgemeinerungsformel des Kategorischen Imperativs bewusst und lustvoll
missachtet, denn die Maximen der hier postulierten philosophischen Lebens-
form sind gerade nicht verallgemeinerbar, ohne die Menschheit in kürzester
Zeit auszulöschen.
GM III 8 spielt mit der Metapher der Schwangerschaft. Philosophen gehen
mit Werken schwanger und gebären. Das ist eine wirkungsvolle antidemokrati-
sche Gegenfigur zur Maieutik, zur Hebammenkunst des Sokrates, der selbst
nicht gebären, sondern nur den Andern beim Gebären ihrer eigenen Gedanken
helfen will (vgl. JGB 136 u. NK KSA 5, 97, 2 f.). Der Philosoph antimaieutischen
Zuschnitts umgekehrt will den anderen überhaupt nicht ,helfen', er will nur
hervorbringen. Und dennoch funktioniert GM III 8 gerade wie ein exemplarisch
maieutischer Text, der die Leser dazu zwingt, sich ihre eigenen Gedanken zu
machen, weil die Kinder des herrischen Philosophen notorisch unverlässlich
scheinen.
ter, nicht ausgeschlossen, dass die ästhetische Empfindung aus der „,Sinnlich-
keit'" (356, 6), also aus der Geschlechtlichkeit hervorgehe und damit, entgegen
Schopenhauers Beteuerung, keineswegs in der ästhetischen Anschauung „auf-
gehoben" (356, 9), sondern nur umgewandelt sei. Das verspricht das „Ich" bei
anderer Gelegenheit in einer „Physiologie der Ästhetik" (356, 14) weiter
zu erörtern.
Überblickt man GM III 8, so überrascht, mit welcher Leidenschaft darin die
Weltunabhängigkeit der philosophischen Lebensform verfochten wird. Jeder
nähere Weltbezug erscheint nur noch als Belastung, weil der Philosoph ja sein
Werk schaffen soll, das er offensichtlich irgendwie souverän aus sich selbst
heraus gebiert. Aber wie darf man sich die diesem Gebären vorausgehende
jungfräuliche Empfängnis und Schwangerschaft des Philosophen vorstellen?
Was für ein Bild von Philosophie kommt hier zum Tragen? Philosophie als
Kommunikationsverweigerung, gerade nicht sokratisch-dialogisch, sondern
völlig selbstbezüglich, autistisch ,aristokratisch'? Immerhin war N. die gemein-
same kommunikative Erzeugung philosophischer Gedanken im Gespräch etwa
aus seiner Beziehung zu Lou von Salome durchaus geläufig. Aber er scheint
das, wenn GM III 8 dafür Zeugnis ablegen kann, als Scheitern und nicht als
Modell empfunden zu haben.
Der Philosoph bedient sich seiner „Wüste", nur als Mittel, nie als Zweck.
Anders lässt sich Autonomie für ihn nicht realisieren. Einerseits liegt im Selbst-
gesetzgebungsstreben, in der Unabhängigkeit des Philosophen von allem Welt-
lichen etwas sehr Kantianisches. Andererseits, und das ist die Pointe, ist Auto-
nomie dem Philosophen nach Maßgabe von GM III 8 nur möglich, wenn er die
anderen Menschen immer nur als Mittel ansieht und nie als Zweck, also gegen
die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs verstößt. Ebenso wird die
Verallgemeinerungsformel des Kategorischen Imperativs bewusst und lustvoll
missachtet, denn die Maximen der hier postulierten philosophischen Lebens-
form sind gerade nicht verallgemeinerbar, ohne die Menschheit in kürzester
Zeit auszulöschen.
GM III 8 spielt mit der Metapher der Schwangerschaft. Philosophen gehen
mit Werken schwanger und gebären. Das ist eine wirkungsvolle antidemokrati-
sche Gegenfigur zur Maieutik, zur Hebammenkunst des Sokrates, der selbst
nicht gebären, sondern nur den Andern beim Gebären ihrer eigenen Gedanken
helfen will (vgl. JGB 136 u. NK KSA 5, 97, 2 f.). Der Philosoph antimaieutischen
Zuschnitts umgekehrt will den anderen überhaupt nicht ,helfen', er will nur
hervorbringen. Und dennoch funktioniert GM III 8 gerade wie ein exemplarisch
maieutischer Text, der die Leser dazu zwingt, sich ihre eigenen Gedanken zu
machen, weil die Kinder des herrischen Philosophen notorisch unverlässlich
scheinen.