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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0463
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444 Zur Genealogie der Moral

352, 9 das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum] Die Vorstellung eines pos-
tumen Geborenwerdens ist in N.s späten Werken angesichts des ausbleibenden
Echos auf seine philosophische Schriftstellerei ein wiederkehrendes Motiv, vgl.
z. B. NK KSA 5, 91, 5 f.; NK KSA 6, 61, 10-12 und NK KSA 6, 167, 5 f. Es ist etwa
auch bei Schopenhauer anzutreffen (Schopenhauer 1873-1874, 6, 491). Lemm
2012 verbindet den Postumitätsanspruch bei N. mit einem Anspruch auf Ver-
antwortlichkeit für die Zukunft (und damit mittelbar auch mit dem in GM II 1-
2 diskutierten, versprechen dürfenden, souveränen Individuum).
352, 9-12 sie denken, Alles in Allem, bei dem asketischen Ideal an den heiteren
Ascetismus eines vergöttlichten und flügge gewordnen Thiers, das über dem Le-
ben mehr schweift als ruht] Das fragliche Tier ist schwerlich der „starke Esel"
(351, 18) aus GM III 7, sondern eher „la bete philosophe" (350, 19). Wer es ver-
göttlicht hat, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob ihm mit dem Flügge-Werden
„Flügel" (352, 5) gewachsen sind.
352, 12-14 Man weiss, was die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals
sind: Armuth, Demuth, Keuschheit] Diese Dreiheit der asketischen Tugenden ist
bei N. seit NL 1880, KSA 9, 9[14], 412, 24 f. präsent, dort gemünzt auf den sich
entweltlichenden „Mönch". Armut, Demut und Keuschheit repräsentieren das
„christliche[.] Ideal[.]", dessen Kritik sich mehrere Texte aus N.s Feder ver-
schreiben (KGW IX 3, N VII 3, 143, 2 = NL 1886/87, KSA 12, 5[42], 199, 25-28,
ähnlich NL 1886/87, KSA 12, 7[61], 315, 23 f., viel ausführlicher NL 1887, KSA 12,
8[3], 329, 19-330, 9). Wie lebensschädlich die Ideale gewesen seien, hebt AC 8,
KSA 6, 175, 6-8 hervor. Nur W I 8, 126, 2-6 (KGW IX 5) macht eine Gegenrech-
nung auf: „Armut, Demuth u. Keuschheit — gefährliche u. verleumderische
Ideale / aber, wie Gifte, in gewissen Krankheitsfällen, nütz=/liche Heilmittel
z[.B]. in der röm[ischen] Kaiserzeit." (Vgl. NL 1885/86, KSA 12, 2[98], 108, 26-
109, 2.) An all diesen Stellen sind Armut, Demut und Keuschheit für Christlich-
Monastisches reserviert. GM III 8 unternimmt dagegen eine ironische Usurpati-
on dieser Tugenden, indem nun die gottlosen Philosophen sich, allerdings auf
sehr eigentümliche Weise, als deren praktische Experten erweisen.
Die drei Begriffe sind N. selbstredend seit seiner christlichen Erziehung
geläufig, ohne dass sie freilich als dogmatische oder praktisch-theologische
Trias traditionell festgeschrieben wären. Zum ersten Mal mit einer Original-
quelle mittelalterlich-monastischer Frömmigkeit in nähere Berührung gekom-
men ist N. wohl, als ihm seine Tante Ida Oehler 1861 zur Konfirmation Thomas
von Kempens Imitatio Christi schenkte (NPB 592 f.), freilich in einer protestanti-
schen Bearbeitung, in der zwar sehr viel von Demut die Rede ist (Thomas von
Kempen 1858, 74 f.; 116-118 u. 126-130), aber kaum von klösterlicher Armut.
Später konnte N. manche einzelnen Erkenntnisse zum historischen Bedeu-
 
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