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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0484
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Stellenkommentar GM III 11, KSA 5, S. 361-362 465

362, 23-28 Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majus-
kel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der ei-
gentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und wid-
riger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben
gar nicht loswürden] Die von N. nie veröffentlichte Abhandlung Ueber Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne beginnt mit einem Blick von außen auf
das im Weltall hoffnungslos abgelegene „Gestirn, auf dem kluge Thiere das
Erkennen erfanden" (WL 1, KSA 1, 875, 4, vgl. CV 1 Ueber das Pathos der Wahr-
heit, KSA 1, 759, 31). Zu den literarischen Vorbildern dieser kosmischen Peri-
pherisierung der Erde und ihrer Menschen bei Schopenhauer, Pascal und Leo-
pardi siehe NK KSA 1, 875, 2-11. Der Beginn von WL lässt diese „hochmüthigste
und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte"' gleich vorüber sein: „Nach weni-
gen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere muss-
ten sterben." (KSA 1, 875, 5-7) Abgesehen davon, dass sich diese Wesen fälsch-
lich klug wähnten und damit ebenso hochmütig waren wie die Erdenbewohner
in GM III 11, wird in der Eingangssequenz von WL nichts über die psychische
Verfassung der Erdlinge gesagt. In GM III 11 ist es hingegen das, was den extra-
terrestrischen Beobachtern zuerst ins Auge springt, nämlich der Lebensüber-
druss, das Missvergnügen am Dasein, was sie dieses Dasein geringschätzen
lässt. Und trotz aller Ähnlichkeit bleibt die Perspektive different: In WL 1 schal-
tet sich kein „Wir" ein, während in GM III 11 ausdrücklich von „unsrem Erden-
Dasein" die Rede ist. Die Beobachter-Perspektive wird explizit verdoppelt: Wir
beobachten, wie die Extraterrestrischen uns beobachten. Das „Wir" legt ihnen
in den Mund, wie sie uns zu sehen geneigt sein könnten. Und die Formulierun-
gen sind vorbehaltvoll („würde vielleicht [...] zu dem Schluss verführen") - das
Als-ob lässt sich nicht vermeiden, wenn man sich der Sichtweise Außerirdi-
scher anverwandeln will. 362, 23-28 ist der locus probans für Peter Sloterdijks
Du mußt dein Leben ändern. „Mit dieser Notiz präsentiert sich Nietzsche als
Pionier einer neuen Humanwissenschaft, die man als Kultur-Planetenkunde
bezeichnen könne. Ihre Methode besteht in Beobachtungen unseres Himmels-
körpers mit Hilfe von Aufnahmen kultureller Formationen wie aus großer
Höhe" (Sloterdijk 2011, 61).
Majuskeln sind Großbuchstaben. Bei N. kommt das Wort nur noch in
FW Vorrede 2 vor, wo ebenfalls ein Ausgreifen ins Kosmische stattfindet, näm-
lich seitens der lebensfrohen Philosophien, die die „Dankbarkeit" „in kosmi-
schen Majuskeln an den Himmel der Begriffe" schreiben, vgl. NK KSA 3, 347,
14-16.
362, 33 f. er wächst aus allen Ständen heraus] Wenn der asketische Priester
tatsächlich aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen kann, fragt sich,
woher dann das „Ressentiment sonder Gleichen" (363, 9) rührt, falls er das
 
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