Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0494
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM III 13, KSA 5, S. 365 475

(367, 3) schlechthin sei, erkundet GM III 13 im letzten Drittel. Dabei erscheint
der Mensch als jenes Wesen, das nie mit sich selbst und seiner Welt zufrieden
ist, in unablässigem Kampf mit sich und andren liegt, mit sich und mit andern
experimentiert, sich nie mit dem Gegebenen und der Gegenwart arrangieren
kann, sondern stets in die Zukunft ausschweift: „— wie sollte ein solches mu-
thiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefährdete, das am Längs-
ten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein?..." (367, 11-14) Diese
wiederum als Frage formulierte Antwort auf die Ausgangsfrage, worin die
Krankhaftigkeit des Menschen begründet sei, entfaltet freilich nur eine geringe
Erklärungskraft und gewinnt wenig hinzu durch die den Abschnitt abschlie-
ßenden Hinweise auf epidemisch auftretende Lebensüberdrussempfindungen
sowie auf den Umstand, dass die menschliche Lebensverneinung stets wieder
in Lebensbejahung münde.
Die eigentliche Frage, die GM III 13 jedoch sorgfältig zu stellen vermeidet,
ist doch die, ob „Krankhaftigkeit", „Krankheit", zumal zunächst mit denunzia-
torisch-pejorativem Unterton ins Spiel gebracht, überhaupt eine passende Ka-
tegorie sind, um das Spezifische des menschlichen Lebens zu erfassen. Gesetzt,
man hält die Beschreibung des Menschen in seiner ewigen Bewegung, seinem
ungestillten Zukunftsdrang, seiner Unfähigkeit, sich mit dem Hier und Jetzt zu
bescheiden, für eine angemessene Darstellung dessen, was ihn ausmacht (und
es gibt gute Gründe, dies zu tun), folgt daraus doch keineswegs, dass das ein
krankhafter Zustand ist. Es wäre einfach nur der Zustand, in dem sich Homini-
ni befinden - ,krankhaft' allenfalls im Vergleich mit Göttern oder Tieren, die
ganz in sich ruhen. Zunächst ist etwa in der Mitte des Textes „Krankhaftig-
keit" mit „Civilisation und Zähmung" (366, 14-16) assoziiert, so dass der Ein-
druck entstehen könne, das sprechende „Wir" liebäugle hier mit einem verspä-
teten Rousseauismus, dem zufolge der Mensch als glückliches und gesundes
Naturwesen erst durch die Erfindung von Kultur unglücklich und krank gewor-
den sei. Dass Zähmung als Affektumlenkung nach innen - und damit das
schlechte Gewissen - aber überhaupt erst ein menschliches Innenleben hervor-
gebracht habe, war bereits eine Hypothese der Zweiten Abhandlung von GM
(vgl. besonders GM II 16 u. 17), und auch, dass die durch das zivilisatorische
Korsett erzwungene Triebumlenkung von außen nach innen den Menschen
krank gemacht habe. Der Mensch als „der grosse Experimentator mit sich" (367,
5 f.) hat freilich mit diesem Gedrückten, in die innere Affektemigration Ge-
zwungenen wenig Ähnlichkeit. Bei den allgemeinen anthropologischen Erörte-
rungen gegen Ende von GM III 13 haben sich die Anklänge an vulgären Spät-
rousseauismus verflüchtigt - kein Gedanke mehr an den vermeintlich schädli-
chen Einfluss der Zivilisation auf den Menschen. Aber ist dann Krankhaftigkeit
überhaupt mehr als eine bloße Metapher für die Unvollkommenheit der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften