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476 Zur Genealogie der Moral

menschlichen Gattung? Was erklärt die Behauptung, der Mensch sei ein kran-
kes oder von Krankheit in einzigartiger Weise - wegen allseitiger Exposition -
gefährdetes Wesen? Und warum sollten dann Remedien wie das asketische
Ideal problematisch sein, zumal letzteres ja offensichtlich die letzten Lebensre-
serven in einem siechen Individuum mobilisiert?
Das scheinbar so selbstverständliche, tatsächlich aber frappierende Reden
vom Krank-Sein ist liiert mit einer anderen Erstaunlichkeit von GM III 13: Im
vorangegangenen Abschnitt ist eben noch die Irreduzibilität unterschiedlicher
Perspektiven aufeinander und die Unmöglichkeit eines objektiven Weltauges
herausgestellt worden; jetzt plötzlich suggeriert das „Wir", es habe Zugriff auf
einen „Thatbestand" (366, 1), auf die „eigentliche Natur" (365, 29 f.) von etwas,
was durch psychologische Selbstmissverständnisse der Akteure verstellt wor-
den sei - das eigentliche Wesen des asketischen Lebens. Nach dem Ausflug
auf die Metaebene (oder in den Maschinenraum), der in GM III 12 die Aussicht
darauf eröffnete, wie durch die Entgegensetzung von Meinungen sich Horizon-
te öffnen, sind die Leser jetzt wieder zurückversetzt ins Meinungskampfgetüm-
mel, wo das „Wir" wie selbstverständlich den Anschein erweckt, es könne auf
die Wirklichkeit an sich zugreifen. „Das Objektivitätsverständnis des Sprechers
von GM III 13 scheint nicht das im 12. Abschnitt proklamierte, sondern vielmehr
jenes des asketischen Ideals zu sein, das keine andere Interpretation als seine
eigene als wahr gelten lassen bzw. diese gar nicht erst als ,Interpretation', son-
dern vielmehr als ,Thatbestand' verstanden wissen will" (Dellinger 2017, 60).
In einer überaus scharfen, damals in dieser Form freilich unveröffentlich-
ten Rezension von Karl Löwiths Buch Von Hegel zu Nietzsche (1941) wirft Gün-
ther Anders unter Rückgriff auf GM III 13 Löwith vor, er blende die Evolutions-
theorie in seinem Epochenpanorama ebenso vollständig aus wie den Umstand,
dass der Mensch wieder unter die Tiere zurückgestellt worden sei. „Es ist
schwer verständlich, dass ein so profunder Nietzschekenner wie Löwith diese
für Nietzsche entscheidende Klassifizierung des Menschen als Tiers auslassen
konnte. Die Definition des Menschen als kranken Tiers ist eines der Leitmotive
Nietzsches. [...] Freilich hielt Nietzsche diese Dehumanisierung des Menschen
nur dadurch aus, dass er den als Tier wohlgeratenen Menschen gleichzeitig
zum Übermenschen promovierte. /106/ Diese Ambivalenz kommt auch dem
vom Nationalsozialismus verwendeten Rasse-Begriff zu." (Anders 2018, 105 f.,
zum Kontext Rottmann 2018).
365, 24-26 „Leben gegen Leben" ist — so viel liegt zunächst auf der Hand —
physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet, einfach Unsinn] Im
Sinne von ,Einzelleben gegen ein anderes Einzelleben' ist die in Anführungs-
zeichen gesetzte Wendung insbesondere in der rechtswissenschaftlichen und
moralphilosophisch-anthropologischen Literatur der Neuzeit durchaus verbrei-
 
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