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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0503
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484 Zur Genealogie der Moral

schwächend eingreifend in die Leiblichkeit des Menschen. Dadurch entsteht
die Suggestion, es wäre klar, was Ansteckung bedeutet, dass und womöglich
wie sie stattfindet. Aber genau dies ist nicht der Fall: So sehr sich in GM III 14
das „Wir" in Empörung angesichts der zersetzenden Umtriebe der „Kranken"
hineinsteigert, so wenig wird doch klar, warum die „Gesunden" überhaupt ge-
fährdet sind, es sei denn, man fände „Ekel" und „Mitleid" als Einfallstore der
„Krankheit" hinreichend plausibel: Die Starken sehen die Elenden, werden von
Mitleid und Ekel bewegt und so zu denjenigen hinabgezogen, die von ihnen
doch so unterschieden sein sollen. Dass Mitleid denjenigen schwäche, der es
empfindet, ist ein Grundton der bei N. wiederholt vorgetragenen Mitleidskritik.
Weshalb jedoch Ekel und Mitleid nicht fokussiert bleiben auf die Kontakterfah-
rungen mit den Elenden, sondern sich so auswachsen, dass sie die eigene,
doch eigentlich gesunde und starke Existenz und schließlich die Welt als ganze
affizieren, bleibt rätselhaft.
Rückfragen bestehen auch fort, wenn man das Wesen der „Krankheit" zu
ergründen sucht. Wie ist es beispielsweise um das Verhältnis von Krankheit
und Leiden bestellt? GM III 14 suggeriert bei Krankheit Illegitimität, während
nach GM III 28 menschliches Leben überhaupt von Leiden bestimmt sei (ist
das Leiden dort eigentlich unausrottbar?). Leiden und Krankheit sind offenbar
nicht deckungsgleich: Es gibt Leiden, das keine Krankheit ist, auch wenn
GM III 13 den Menschen als das krankhafte Tier anspricht. Wenn jemand leidet,
weil er etwas nicht bekommt, ist er deswegen nicht krank. Auch gibt es Krank-
heiten, die nicht mit gefühltem Leiden verbunden sind, während Leiden, das
nicht gefühlt wird, ein begrifflicher Widerspruch zu sein scheint. Krankheit
verfällt in GM III 14 moralischer Ächtung, Leiden als solches hingegen nicht.
Schließlich ist auch die therapeutische Prognose von GM III 14 einigerma-
ßen fragwürdig, wenn sie den einzig erfolgversprechenden Weg, der Krankheit
auszuweichen, in der Isolation der Kranken (oder der Gesunden) zu erkennen
wähnt. Wäre statt Abschottung nicht eher Immunisierung durch Kontakt dazu
geeignet, Widerstandskräfte zu wecken - so wie die bei N. ja seit GT immer
wieder gern bemühte griechische Tragödie nach Aristoteles durch Jammer und
Schauder angesichts fremden Leidens einen heilenden Effekt erzielt haben soll
(vgl. z. B. NK 304, 2)? Und auch das „Wir" von GM III 14 spricht zwar von der
Notwendigkeit der Isolation, schottet sich jedoch nicht ab, sondern konfron-
tiert sich und die Leser mit dem angeblich Kranken. Kann letztlich doch nur
gesund sein, wer durch die Krankheit hindurchgegangen ist?
GM stellt grundsätzlich in Frage, was landläufig als gut gilt. Der Zweck
dieses Werks, bei all seiner inneren Uneinheitlichkeit, versteht sich durchaus
auch therapeutisch - kurativ im Umgang mit einer als Krankheit verstandenen
Moral, beispielweise mit einem zum Selbstzweck gewordenen asketischen Ide-
 
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