556 Zur Genealogie der Moral
gel durch den Kopf jagen, wenn er auch noch so wenig Hoffnung hätte, sich
zu retten. Er hat keine Angst, geschmacklos zu sein!" Stendhal 1978, 447).
393, 24-29 alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Men-
schen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die
unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk.
Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft] Vgl. NK KSA 5, 72, 2-7 u. NK
KSA 6, 194, 31-195, 3. Die in GM III 22 auch um des wirkungsvollen Kontrastes
willen scheinbar unbedingt positive Sicht auf die Hebräische Bibel sollte sich
binnen Jahresfrist empfindlich eintrüben, nachdem N. in den Prolegomena zur
Geschichte Israels von Julius Wellhausen gelesen hatte, dass die scheinbar äl-
testen und ,heroischsten' Teile des Alten Testaments aus exilischer und nach-
exilischer Zeit stammen und damit Produkte eines priesterlichen Geschichtsfäl-
schungswerks sind (dazu Sommer 2000a, 244-266 und passim). In AC wird das
Alte Testament auf neue Weise funktionalisiert, nämlich als Dokument kultu-
reller Dekadenz, was deutlich macht, wie stark situativ in N.s Texten argumen-
tiert wird. 393, 24-29 liest sich wie eine Antwort auf Höffdings Psychologie in
Umrissen, die eine Erhabensheitsäquivalenz zwischen Altem und Neuem Testa-
ment konstatierte: „Erst wo die Gottheit wesentlich als beschützende und huld-
reiche Macht erscheint, wird die Furcht zur Ehrfurcht ([...]). Man findet Erha-
benheit nicht nur im Jehovah des Alten Testaments, der eine Welt durch sein
Wort erzeugt und auf dem Gipfel des Berges unter Donner und Blitz seinem
Volke das strenge Gesetz gibt, sondern auch in der Lehre des Buddhismus und
des Christentums von der Unendlichkeit des göttlichen Erbarmens und der
göttlichen Liebe, vor deren Angesicht menschliche Sünden und Leiden ver-
schwinden wie der Nebel vor der Sonne" (Höffding 1887, 367).
393, 28-394, 3 Im neuen [sc. Testament] dagegen lauter kleine Sekten-Wirth-
schaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches,
lauter Conventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukoli-
scher Süsslichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört
und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht
nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaft-
lichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede
gute Erziehung gefehlt.] Vgl. NK KSA 5, 72, 10-24. Im Hintergrund steht das
weiche Bild, das Ernest Renan vom jüdisch-frühchristlichen Milieu namentlich
in Les Apötres (1866) und Marc-Aurele et la fin du monde antique (1882) gezeich-
net hat; siehe hierzu Orsucci 2008, 26 f. u. Orsucci 1996, 298-303. Zum ,0rienta-
lismus' in GM III 22 vgl. Large 2013, 200.
394, 5 Kein Hahn kräht darnach; geschweige denn Gott.] Das spielt auf die Ge-
schichte von der Verleugnung des Petrus an (Matthäus 26, 69-75, Markus 14,
gel durch den Kopf jagen, wenn er auch noch so wenig Hoffnung hätte, sich
zu retten. Er hat keine Angst, geschmacklos zu sein!" Stendhal 1978, 447).
393, 24-29 alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Men-
schen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die
unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk.
Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft] Vgl. NK KSA 5, 72, 2-7 u. NK
KSA 6, 194, 31-195, 3. Die in GM III 22 auch um des wirkungsvollen Kontrastes
willen scheinbar unbedingt positive Sicht auf die Hebräische Bibel sollte sich
binnen Jahresfrist empfindlich eintrüben, nachdem N. in den Prolegomena zur
Geschichte Israels von Julius Wellhausen gelesen hatte, dass die scheinbar äl-
testen und ,heroischsten' Teile des Alten Testaments aus exilischer und nach-
exilischer Zeit stammen und damit Produkte eines priesterlichen Geschichtsfäl-
schungswerks sind (dazu Sommer 2000a, 244-266 und passim). In AC wird das
Alte Testament auf neue Weise funktionalisiert, nämlich als Dokument kultu-
reller Dekadenz, was deutlich macht, wie stark situativ in N.s Texten argumen-
tiert wird. 393, 24-29 liest sich wie eine Antwort auf Höffdings Psychologie in
Umrissen, die eine Erhabensheitsäquivalenz zwischen Altem und Neuem Testa-
ment konstatierte: „Erst wo die Gottheit wesentlich als beschützende und huld-
reiche Macht erscheint, wird die Furcht zur Ehrfurcht ([...]). Man findet Erha-
benheit nicht nur im Jehovah des Alten Testaments, der eine Welt durch sein
Wort erzeugt und auf dem Gipfel des Berges unter Donner und Blitz seinem
Volke das strenge Gesetz gibt, sondern auch in der Lehre des Buddhismus und
des Christentums von der Unendlichkeit des göttlichen Erbarmens und der
göttlichen Liebe, vor deren Angesicht menschliche Sünden und Leiden ver-
schwinden wie der Nebel vor der Sonne" (Höffding 1887, 367).
393, 28-394, 3 Im neuen [sc. Testament] dagegen lauter kleine Sekten-Wirth-
schaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches,
lauter Conventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukoli-
scher Süsslichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört
und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht
nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaft-
lichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede
gute Erziehung gefehlt.] Vgl. NK KSA 5, 72, 10-24. Im Hintergrund steht das
weiche Bild, das Ernest Renan vom jüdisch-frühchristlichen Milieu namentlich
in Les Apötres (1866) und Marc-Aurele et la fin du monde antique (1882) gezeich-
net hat; siehe hierzu Orsucci 2008, 26 f. u. Orsucci 1996, 298-303. Zum ,0rienta-
lismus' in GM III 22 vgl. Large 2013, 200.
394, 5 Kein Hahn kräht darnach; geschweige denn Gott.] Das spielt auf die Ge-
schichte von der Verleugnung des Petrus an (Matthäus 26, 69-75, Markus 14,