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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0579
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560 Zur Genealogie der Moral

Schranken gewiesen und überwunden habe. Für sie stehe „unsre ganze moder-
ne Wissenschaft" (396, 16 f.), die doch nur an sich glaube und alle theologi-
schen und lebensverneinenden Begriffe aufgegeben habe. Das „Ich" freilich
lässt diesen Einwand nicht gelten, sondern hält dieses seit der Aufklärung und
insbesondere im 19. Jahrhundert weitverbreitete Selbstverständnis zahlreicher
Wissenschaftsrepräsentanten für bloßen „Lärm und Agitatoren-Geschwätz"
(396, 22). Vielmehr sei das Entgegengesetzte wahr: Wissenschaft habe gerade
kein Ideal und kein Vertrauen in sich selbst, sondern da, „wo sie überhaupt
noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist" (396, 32 f.), drücke sich just das
asketische Ideal selbst aus. Als Argument lässt der Sprechende nun nicht gel-
ten, dass es sehr wohl ein „braves und bescheidenes Arbeiter-Volk auch unter
den Gelehrten von Heute" (397, 2 f.) gebe, das in seinem kleinem Reich mit sich
und dem Seinen zufrieden sei. Das beweise nichts für die Wissenschaft als
ganze, die dort, wo sie gerade nicht vornehmster Ausdruck des asketischen
Ideals sei - „es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle"
(397, 15 f.) - bloß allerlei negative Affekte und Empfindungen kaschiere, eine
„Unruhe der Ideallosigkeit" (397, 19 f.), so dass in der rastlosen Aktivität vie-
ler Gelehrter nichts weiter als „Selbst-Betäubung" (397, 27 f.) zu erkennen sei.
Als Beleg dafür führt das „Ich" die im Umgang selbst erlebte hochgradige Emp-
findlichkeit der Gelehrten gegenüber echter oder vermeintlicher Kritik ins Feld,
die zeige, dass man es hier mit „Leidenden" (397, 34) zu tun habe, die als
Betäubte fürchteten, „zum Bewusstsein zu kommen..." (398, 2).
Gemäß der Gegenrede des „Ich" auf den Einwand des „Man" gibt es dem-
nach drei Typen von Wissenschaftlern: Die Erstgenannten sind diejenigen, die
sich als selten erweisen, nämlich die Verkörperungen des asketischen Ideals
in seiner sublimsten, vornehmsten Ausprägung. Auf sie wird in den folgenden
Abschnitten weiter eingegangen, um diesen spezifischen Typus des Asketen
genauer zu fassen. Die Zweitgenannten sind die wissenschaftlichen Arbeiter,
die weder leiden noch leidenschaftlich sind, sondern zufrieden und mit sich
im Reinen. Diese Zufriedenheit wird - obwohl diese zweite Gruppe ja womög-
lich den zahlenmäßig größten Teil der Wissenschaftsgemeinde ausmacht -
vom Sprechenden als Argument nicht zugelassen, ohne zu erläutern, warum
eigentlich nicht. Das „Ich" greift selbst bei der dritten Gruppe, bei der Unzufrie-
denheit und Ruhelosigkeit vorherrscht, weil ihre Vertreter insgeheim leiden
und die Wissenschaft nur zur Selbstsedierung benutzen, auf einen psychologi-
schen Verdacht als Argument zurück, der sich auf nichts weiter stützt als auf
die persönliche Erfahrung im Umgang mit solchen Wissenschaftlern. Weshalb
dieses Argument im Blick auf den Gesamtcharakter von Wissenschaft, ihre as-
ketische oder gegenasketische Idealität, ein stärkeres Gewicht haben sollte als
die Beobachtungen bei der zweiten Gruppe der zufriedenen Wissenschaftler,
 
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