Stellenkommentar GM III 23, KSA 5, S. 395-396 561
bleibt unerörtert. Sowohl bei den Zufriedenen als auch bei den Unzufriedenen
ist weder klar, ob ihr Befinden in irgendeinem kausalen Verhältnis zu dem
steht, was sie beruflich tun - noch ob das, was sie beruflich tun, nämlich Wis-
senschaft, besonders geeignet ist, ihrem Unwohlsein palliativ, wenn schon
nicht therapeutisch abzuhelfen oder aber im anderen Fall ihr Wohlbefinden
zu fördern. Könnten sie nicht etwas ganz anderes treiben als Wissenschaft -
Kaufleute oder Bauern sein und auch entweder zufrieden oder unzufrieden mit
sich und dem Ihrigen? Genau betrachtet sagt die Befindlichkeit der dritten
Gruppe genauso wenig über das Verhältnis von Wissenschaft und asketischem
Ideal aus wie diejenige der zweiten Gruppe. Aus dem Leiden der dritten Gruppe
folgt jedenfalls nicht, dass sie dem asketischen Ideal deswegen verfallen wä-
ren, weil sie Wissenschaftler sind. Wissenschaft gäbe ihnen kein Ideal ein, son-
dern diente ihnen bloß als Affektableiter und Affektbetäuber. Immerhin ließe
sich daraus möglicherweise folgern, dass entgegen dem vom „Man" formulier-
ten Einwand die Wissenschaft im Normalfall ausgesprochen idealschwach
ist und eben keine Alternative zum asketischen Ideal zu bieten hat. Freilich
muss nur derjenige, der die in GM III 23 behauptete, ungeheure und übergrei-
fende Dominanz des (singularischen!) asketischen Ideals als unangreifbaren
Befund akzeptiert, sich dann um die Wissenschaft und ihre asketische Infil-
tration Sorgen machen. Sollte jemand den Befund bezweifeln, könnte man
auch argumentieren, Wissenschaft habe ihrerseits nichts mit Askese oder Anti-
Askese zu tun und ihr Ideal - Wahrheit - stehe weder in einem negativen noch
in einem positiven Zusammenhang mit dem asketischen Ideal. Gerade diesen
Einwand im Keim zu ersticken bemüht sich der folgende Abschnitt, wo dann
die erstgenannte Wissenschaftlergruppe im Vordergrund steht, obwohl es in
GM III 23 noch heißt, ihr Vorkommen sei so selten, dass im Hinblick auf sie
nicht „das Gesammturteil" über Wissenschaft „umgebogen werden" könne
(397, 16 f.).
Gemes 2006 stellt den Bezug von GM III 23 zu GM Vorrede 1 und der Un-
möglichkeit der Selbsterkenntnis heraus (vgl. NK 247, 24-248, 1); zum Nihilis-
mus der Wissenschaft im Kontext des Suizids siehe Stellino 2013, 173, zu den
Möglichkeiten einer „fröhlichen" Wissenschaft unter den Vorzeichen asketi-
scher Ideale Heit 2015. Johnson 2010, 191-200 versteht die abschließenden Pas-
sagen von GM III als Breitseite gegen Wissenschaft überhaupt und GM insge-
samt als Streitschrift gegen den Darwinismus (vgl. auch Johnson 2013, 250-
255).
396, 3 f. (— und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?)]
Der Komparativ „gedachteres" ist bei N. singulär. Man könnte einwenden, er
sei grammatisch unzulässig, da sich Denken nicht steigern lassen, wenigstens
sprachlich nicht. Semantisch wird man dagegenhalten, man könne schon et-
bleibt unerörtert. Sowohl bei den Zufriedenen als auch bei den Unzufriedenen
ist weder klar, ob ihr Befinden in irgendeinem kausalen Verhältnis zu dem
steht, was sie beruflich tun - noch ob das, was sie beruflich tun, nämlich Wis-
senschaft, besonders geeignet ist, ihrem Unwohlsein palliativ, wenn schon
nicht therapeutisch abzuhelfen oder aber im anderen Fall ihr Wohlbefinden
zu fördern. Könnten sie nicht etwas ganz anderes treiben als Wissenschaft -
Kaufleute oder Bauern sein und auch entweder zufrieden oder unzufrieden mit
sich und dem Ihrigen? Genau betrachtet sagt die Befindlichkeit der dritten
Gruppe genauso wenig über das Verhältnis von Wissenschaft und asketischem
Ideal aus wie diejenige der zweiten Gruppe. Aus dem Leiden der dritten Gruppe
folgt jedenfalls nicht, dass sie dem asketischen Ideal deswegen verfallen wä-
ren, weil sie Wissenschaftler sind. Wissenschaft gäbe ihnen kein Ideal ein, son-
dern diente ihnen bloß als Affektableiter und Affektbetäuber. Immerhin ließe
sich daraus möglicherweise folgern, dass entgegen dem vom „Man" formulier-
ten Einwand die Wissenschaft im Normalfall ausgesprochen idealschwach
ist und eben keine Alternative zum asketischen Ideal zu bieten hat. Freilich
muss nur derjenige, der die in GM III 23 behauptete, ungeheure und übergrei-
fende Dominanz des (singularischen!) asketischen Ideals als unangreifbaren
Befund akzeptiert, sich dann um die Wissenschaft und ihre asketische Infil-
tration Sorgen machen. Sollte jemand den Befund bezweifeln, könnte man
auch argumentieren, Wissenschaft habe ihrerseits nichts mit Askese oder Anti-
Askese zu tun und ihr Ideal - Wahrheit - stehe weder in einem negativen noch
in einem positiven Zusammenhang mit dem asketischen Ideal. Gerade diesen
Einwand im Keim zu ersticken bemüht sich der folgende Abschnitt, wo dann
die erstgenannte Wissenschaftlergruppe im Vordergrund steht, obwohl es in
GM III 23 noch heißt, ihr Vorkommen sei so selten, dass im Hinblick auf sie
nicht „das Gesammturteil" über Wissenschaft „umgebogen werden" könne
(397, 16 f.).
Gemes 2006 stellt den Bezug von GM III 23 zu GM Vorrede 1 und der Un-
möglichkeit der Selbsterkenntnis heraus (vgl. NK 247, 24-248, 1); zum Nihilis-
mus der Wissenschaft im Kontext des Suizids siehe Stellino 2013, 173, zu den
Möglichkeiten einer „fröhlichen" Wissenschaft unter den Vorzeichen asketi-
scher Ideale Heit 2015. Johnson 2010, 191-200 versteht die abschließenden Pas-
sagen von GM III als Breitseite gegen Wissenschaft überhaupt und GM insge-
samt als Streitschrift gegen den Darwinismus (vgl. auch Johnson 2013, 250-
255).
396, 3 f. (— und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?)]
Der Komparativ „gedachteres" ist bei N. singulär. Man könnte einwenden, er
sei grammatisch unzulässig, da sich Denken nicht steigern lassen, wenigstens
sprachlich nicht. Semantisch wird man dagegenhalten, man könne schon et-