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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0587
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568 Zur Genealogie der Moral

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich in Hammer-Purgstalls Ge-
schichte der Assassinen der fragliche Satz, den N. wiedergibt, gerade nicht im
indikativischen Wortlaut findet, sondern nur in indirekter Rede: „Daß
Nichts wahr und Alles erlaubt sey, blieb zwar der Grund der geheimen
Lehre, die aber nur sehr wenigen mitgetheilt, und unter dem Schleier der
strengsten Religiosität und Frömmigkeit versteckt, die Gemüther mit dem
schon eingelegten Zügel der positiven Gebote des Islams um so straffer unter
dem Joche des blinden Gehorsams zusammenhielt, jemehr zeitliche Unterwer-
fung und Aufopferung durch ewige Belohnung und Verherrlichung sanktionirt
ward." (Hammer 1818, 84, vgl. ebd., 44, 45, 50, 56, 93, 96, 122, 172 f. u. 213.)
Nun wäre es für N. sicher ein Leichtes gewesen, diesen Satz von der indirekten
in die direkte Rede zu übertragen, aber es fällt doch erstens auf, dass der Satz
bei Hammer-Purgstall kein direktes Zitat ist, und zweitens, dass der Satz im
19. Jahrhundert vor N.s Verwendung als Zitat in (fast) identischer Gestalt wie
später bei N. wiedergegeben wurde. In August Joseph Ludwig von Wacker-
barths Die früheste Geschichte der Türken heißt es beispielsweise über den „ge-
heimen Orden[.]" oder das „furchtbare[.] Assassinen-Reich[.]" „Die Grund-
sätze seiner Anhänger waren grell und seltsam genug, zum Beispiel: ,Nichts
ist wahr, und alles ist erlaubt.' Solche geheimen Lehren giengen nun
von dem /310/ hohen Alamut aus, und unsichtbare Dolchspitzen bekräftigten
oft die mystischen Wahrheiten dieser geschlossenen schreckbaren Gesell-
schaft." (Wackerbarth [1821], 309 f.) Auch in allgemeinen historiographischen
Werken ohne orientalistischen Schwerpunkt kommt der Spruch vor, so - unter
Hinweis auf Hammer - in Wolfgang Menzels Geschichte der Deutschen bis auf
die neuesten Tage, wo in einer Fußnote über den „Alte[n] vom Berge" berichtet
wird, dass er „sich mit den Assassinen umgab, die aus religiöser Verehrung
für ihn lachend in den Tod gingen und jeden mordeten, den er ihnen bezeich-
nete. Ihre Geheimlehre war: ,nichts ist wahr und alles ist erlaubt.'" (Menzel
1872, 1, 375, Fn. 1) In der von Johann August Moritz Brühl angefertigten und
von Cornelius Will umgearbeiteten Übersetzung Allgemeine Geschichte des Mit-
telalters von Cesare Cantü wird beim Assassinenspruch sogar das Wort „Sym-
bolum" - im Sinne von Glaubensbekenntnis - verwendet, das in GM III 24
wiederkehrt: „Die Adepten hatten neun Stufen zu erklimmen, um zur erhabe-
nen Wissenschaft zu gelangen; in der letzten gelangten sie zur Ueberzeugung
des Symbolums: ,Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt'." (Cantu 1864, 2, 569) Zwar
lässt sich keiner dieser Texte als eindeutige Quelle N.s dingfest machen; sie
zeigen aber, wie weit verbreitet der Spruch unter dem Rubrum der Assassinen
damals bereits war.
Dass von „Symbol und Kerbholz-Wort" in W I 8, 237, 7-12 (KGW IX 5, vgl.
NL 1885/86, KSA 12, 2[19], 75, 11-13) bei einer ganz anderen islamischen Weis-
 
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