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Stellenkommentar GM III 24, KSA 5, S. 399 569

heit die Rede war, wurde schon erwähnt; in NL 1888, KGW IX 10, W II 8, 83,
2-5 wird N. „die Formel ,Jenseits v G u Böse'" als „mein Symbol u Kerbholz-
Wort" bezeichnen. Der Assoziationshorizont stammt wohl aus der Lektüre von
Lipperts Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch, wo davon gehandelt wird,
wie sich die frühen Christen zu einem Glaubensbekenntnis durchrangen: „Dass
man ein Glaubenssymbol aufstellte, ergab sich nun aus der Entwicklungsstufe
dieser Zeit ebenso nothwendig, wie es zur Apostelzeit unnöthig und wohl
auch noch unmöglich gewesen wäre. Wenigstens hätte es, ehe auch die For-
men des Mysteriums entwickelt waren, weder diesen Namen führen, noch die-
sen Sinn erhalten können. Die Bezeichnung Symbol (cropßoAov) ist ganz aus
dem Mysterienapparate entnommen. Symbola von cropßdAÄw, zusammenfü-
gen, sind ursprünglich Marken, deren Zusammenfügung der Prüfstein für die
beanspruchte Zusammengehörigkeit der mit solchen Zeugnissen Versehenen,
im bestimmten Falle also der Mysten sein kann. Unser altes Kerbholz war ein
sinnliches Symbol, an welchem Schuldner und Gläubiger die Richtigkeit der
Aufzeichnung durch Zusammenlegen der zwei mit gleichem Strich gekerbten
Theile erprobten. Mit solchen zusammenpassenden Marken wiesen sich die
Gastfreunde aus, und eine solche Erkennungsmarke unter einander war ein
von Mysten auswendig behaltener Spruch — in unserm Falle das christliche
Symbolum. Es hätte diesem Zwecke nicht entsprochen, wenn es nicht von den
Eingeweihten hätte geheim gehalten werden müssen. Erst kurz vor der Taufe,
also der wirklichen Aufnahme, wurde es mitgetheilt" (Lippert 1882, 117).
Gegen eine Interpretation, die den Satz „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt"
als N.s persönliches Symbolon auffasst - und in der N.-Interpretationsge-
schichte ist man häufig so verfahren, siehe den kritischen Überblick bei Christi-
an Niemeyer in NLex 2009, 246 f. - ist festzuhalten, dass sich das „Ich" in
GM III 24 keineswegs zu dem Satz bekennt, sondern ihn nur als historische
Reminiszenz einsetzt, nämlich um die mangelnde Radikalität der noch immer
wahrheitsgläubigen Wissenschaftspathetiker zu demonstrieren (vgl. auch Del-
linger 2017, 74). Auch außerhalb der N.-Forschung hat der Satz dank N. Karriere
gemacht: Der junge Benito Mussolini erwies N. seine Reverenz mit einer Novel-
le unter dem Titel Nulla e vero, tutto e permesso (Sarfatti [1926], 123). Lars Gus-
tafsson erprobt in seinem Roman En biodlares död (Der Tod eines Bienenzüch-
ters) von 1978 eine Umkehrung des Satzes: „WENN GOTT LEBT, IST ALLES ER-
LAUBT." (Gustafsson 1984, 114) Aber die Konsequenzen sind nicht weniger
nihilistisch als bei den Assassinen: „Wenn es einen Gott gibt, ist es die Aufgabe
der Menschen, seine Negation zu sein" (ebd., 136).
399, 20-23 Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich
in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den
Minotauros dieser Höhle aus Erfahrung?...] Das Labyrinth- und Minotauros-
 
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