570 Zur Genealogie der Moral
Motiv ist in N.s Spätwerk gängig, um die Erkenntnis- und Orientierungsnöte
intellektuell und existenziell Wagemutiger zu veranschaulichen, vgl. z. B. NK
KSA 5, 48, 1-6 u. NK KSA 5, 239, 2-6. Nach der griechischen Mythologie hat
König Minos das stiermenschliche Mischwesen Minotauros auf Kreta in ein La-
byrinth einsperren und ihm Kinderopfer darbringen lassen. Theseus fand sich
anhand des Fadens von Minos' Tochter Ariadne im Labyrinth zurecht und töte-
te das Ungeheuer. Wer aber ist in 399, 20-23 der Minotauros? Der radikale Ver-
neiner aller Wahrheit, aller Moral?
399, 29-400, 9 Ich kenne dies Alles vielleicht zu sehr aus der Nähe: jene vereh-
renswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpflichtet,
jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet
wie das Ja, jenes Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum
brutum, jener Fatalismus der „petits faits" (ce petit faitalisme, wie ich ihn nen-
ne), worin die französische Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor
der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das
Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten,
Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehört) — das drückt,
in's Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine
Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung).]
Zur Interpretation dieser Stelle vgl. ausführlich NK KSA 6, 115, 28-31, zum „in-
tellektuellen Stoicismus" bzw „Stoicismus des Intellekts" NK 382, llf. Die Refe-
renzautoren für die „petits faits", die „kleinen Tatsachen" sind Guyau, Stend-
hal und Bourget. Das „factum brutum" ist die „nackte Tatsache", das Gegebe-
ne. Wer also ganz auf Deutung, auf „Interpretation" verzichtet, befleißigt sich
ebenfalls einer asketisch-negativen Praxis und hat nicht den Mut zur Entschei-
dung, zur Parteinahme. Was 400, 3-5 als „Interpretation" kennzeichnet, näm-
lich „das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen,
Ausdichten, Umfälschen", ist eine exakte Beschreibung des Verfahrens, das in
GM selbst zur Anwendung kommt - eine radikal zurechtmachende Interpretati-
on der moralgeschichtlichen faits in lebenspraktischer Absicht, ein Ausdruck
interpretatorischen Machtwissens. Das hält die Sprecherinstanz in AC 52 indes
nicht davon ab, den Lesern einen Verzicht auf interpretatorische Zurechtma-
chung nahezulegen, vgl. NK KSA 6, 233, 17-24. Christian Benne legte in seinem
2016 auf der Tagung über Nietzsche und die Griechen im Nietzsche-Dokumen-
tationszentrum Naumburg gehaltenen Vortrag dar, dass die die Interpretation
in GM III 24 charakterisierenden Begriffe „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Ab-
kürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" travestierte Begriffe
aus der Klassischen Philologie seien, die nicht einfach einen Text vorfinde,
sondern ihn durch philologische Arbeit erst konstituiere. Mit Blick auf AC 52
Motiv ist in N.s Spätwerk gängig, um die Erkenntnis- und Orientierungsnöte
intellektuell und existenziell Wagemutiger zu veranschaulichen, vgl. z. B. NK
KSA 5, 48, 1-6 u. NK KSA 5, 239, 2-6. Nach der griechischen Mythologie hat
König Minos das stiermenschliche Mischwesen Minotauros auf Kreta in ein La-
byrinth einsperren und ihm Kinderopfer darbringen lassen. Theseus fand sich
anhand des Fadens von Minos' Tochter Ariadne im Labyrinth zurecht und töte-
te das Ungeheuer. Wer aber ist in 399, 20-23 der Minotauros? Der radikale Ver-
neiner aller Wahrheit, aller Moral?
399, 29-400, 9 Ich kenne dies Alles vielleicht zu sehr aus der Nähe: jene vereh-
renswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpflichtet,
jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet
wie das Ja, jenes Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum
brutum, jener Fatalismus der „petits faits" (ce petit faitalisme, wie ich ihn nen-
ne), worin die französische Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor
der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das
Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten,
Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehört) — das drückt,
in's Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine
Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung).]
Zur Interpretation dieser Stelle vgl. ausführlich NK KSA 6, 115, 28-31, zum „in-
tellektuellen Stoicismus" bzw „Stoicismus des Intellekts" NK 382, llf. Die Refe-
renzautoren für die „petits faits", die „kleinen Tatsachen" sind Guyau, Stend-
hal und Bourget. Das „factum brutum" ist die „nackte Tatsache", das Gegebe-
ne. Wer also ganz auf Deutung, auf „Interpretation" verzichtet, befleißigt sich
ebenfalls einer asketisch-negativen Praxis und hat nicht den Mut zur Entschei-
dung, zur Parteinahme. Was 400, 3-5 als „Interpretation" kennzeichnet, näm-
lich „das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen,
Ausdichten, Umfälschen", ist eine exakte Beschreibung des Verfahrens, das in
GM selbst zur Anwendung kommt - eine radikal zurechtmachende Interpretati-
on der moralgeschichtlichen faits in lebenspraktischer Absicht, ein Ausdruck
interpretatorischen Machtwissens. Das hält die Sprecherinstanz in AC 52 indes
nicht davon ab, den Lesern einen Verzicht auf interpretatorische Zurechtma-
chung nahezulegen, vgl. NK KSA 6, 233, 17-24. Christian Benne legte in seinem
2016 auf der Tagung über Nietzsche und die Griechen im Nietzsche-Dokumen-
tationszentrum Naumburg gehaltenen Vortrag dar, dass die die Interpretation
in GM III 24 charakterisierenden Begriffe „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Ab-
kürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" travestierte Begriffe
aus der Klassischen Philologie seien, die nicht einfach einen Text vorfinde,
sondern ihn durch philologische Arbeit erst konstituiere. Mit Blick auf AC 52