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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0591
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572 Zur Genealogie der Moral

400, 20-26 wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie „auf streng wissen-
schaftliche Grundlage" zu stellen, der hat dazu erst nöthig, nicht nur die Philoso-
phie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste
Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer
geben kann!)] Mit dem Gedanken, ,,[d]ie Philosophie rein zur Wissenschaft
zu machen", beschäftigt sich schon NL 1873, KSA 7, 29[199], 710, 24 und zwar
im Hinblick auf Adolf Trendelenburg, wobei im Hintergrund, wie Venturelli
1994, 299-301 zeigt, Teichmüllers Aristotelische Forschungen stehen. Dass
schon der frühe N. gegenüber einem derartigen szientistischen Philosophiever-
ständnis Fundamentalopposition anmeldete, verwundert nicht. Die Reprise des
Themas in GM III 24 hängt freilich weniger an Trendelenburg und Teichmüller,
sondern an dem gerade in GM vielgeschmähten Eugen Dühring, dessen Cursus
der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestal-
tung N. intensiv durchgearbeitet hat. Die strenge Wissenschaftlichkeit seiner
Philosophie nimmt Dühring darin unentwegt in Anspruch und aspiriert darauf,
von hier aus auch die Gesellschaft (in sozialistischem Sinn, vgl. Vaihinger
1876, 162) umzugestalten: „Das Gesammtbild, welches wir jetzt von dem Gan-
zen der Socialität zu entwerfen haben, wird hauptsächlich dazu dienen, die der
Wirklichkeitsphilosophie entsprechende und auf der streng wissenschaftlichen
Auffassung von Dingen und Menschen beruhende Lebensgestaltung in allen
Hauptrichtungen ihres Gefüges sichtbar zu machen." (Dühring 1875a, 387) Phi-
losophie hat mit dem in N.s Spätwerk exponierten Verständnis demgegenüber
nicht auf Wissenschaft zu gründen, sondern die Philosophie (der Zukunft) hat
als gesetzgebende Instanz vielmehr der Wissenschaft den Weg zu weisen.
Wenn man die beiden Damen Wahrheit und Philosophie, über deren An-
ständigkeit und Züchtigkeit man allerdings geteilter Meinung sein kann (vgl.
das Motto zu GM III, wo es zwar um das „Weib" Weisheit geht, zugleich aber
die Kriegsmannpräferenz aller Weiber behauptet wird, dazu NK 339, 3-7), auf
den Kopf stellt, sieht man ihre Unterwäsche oder gar ihre Geschlechtsteile.
Dass die Wahrheit als Frau womöglich selbst exhibitionistische Gelüste haben
könnte, stellt FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 20 durch den Vergleich mit Baubo
fragend in den Raum, um allerdings zugleich auf ihre Tendenz zu schamhafter
Verhüllung hinzuweisen (vgl. Kaufmann 2016, 93-98); siehe auch die Reprise
in NW Epilog 2 und dazu NK KSA 6, 439, 8f.
400, 26-401, 9 Ja, es ist kein Zweifel — und hiermit lasse ich meine „fröhliche
Wissenschaft" zu Worte kommen, vergl. deren fünftes Buch S. 263 — „der Wahr-
haftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wis-
senschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens,
der Natur und der Geschichte; und insofern er diese „andre Welt" bejaht, wie?
muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt — verneinen?...
 
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