586 Zur Genealogie der Moral
ron, aucune croyance surnaturelle ne dominait sur les esprits cultives." (Dou-
dan 1877, 3, 336. „Man hat meiner Ansicht nach nicht genau die Verheerungen
berechnet, die in den Köpfen der neueren Zeiten durch die Gewohnheit verur-
sacht wurde, das Uneinsehbare zu bewundern, anstatt einfach im Unbekann-
ten zu bleiben. Zu Ciceros Zeit beherrschte kein übernatürlicher Glaube die
kultivierten Geister.")
405, 26 elegantia syllogismi] Lateinisch: „Eleganz der Schlussfolgerung".
26.
Von asketischem Ideal infiziert sind, wie GM III 26 ausweisen will, keineswegs
nur die Naturwissenschaften und die Philosophie, sondern ebenso die Ge-
schichtswissenschaft. In der heute herrschenden Ausprägung verschreibe letz-
tere sich und ihren Lesern quasi einen Kälteschock: Sie verzichte auf jedes
Urteil, lege sich auf bloße Beschreibung fest und dringe ganz nihilistisch in
Regionen vor, in denen ewiges Eis herrsche: „Hier ist Schnee, hier ist das Le-
ben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen ,Wozu?', ,Um-
sonst!', ,Nada!' — hier gedeiht und wächst Nichts mehr" (406, 9-11). Eine ande-
re, „vielleicht noch ,modernere'" (406, 13 f.) Ausprägung, gegen die das spre-
chende „Ich" lautstarke Abneigung äußert, kann sich mit dem Nichts nicht
wirklich arrangieren und schwankt daher zwischen Leben und asketischem
Ideal. „Beschaulichkeit" (407, 10) statt kalter Beschreibung ist die Losung die-
ser Form von Geschichtsschreibung, die doch nichts weiter sei als „lüsterne[s]
Eunuchtenthum[.] vor der Historie" (407, 10 f.). Der entschiedene Widerwille
gegen diesen Typus der Historie leitet gemächlich über zu einer Gegenwarts-
diagnose, die Europa insgesamt von einem krankhaften Erregungsbedürfnis
gezeichnet sieht, von falschem Heroismus und Idealismus, die sich, wird mit
einem sarkastischen Seitenhieb auf die kulturellen und religiösen Missionsbe-
mühungen der imperialistischen europäischen Staaten vorgeschlagen, ideal
als koloniale Exportgüter eignen dürften: „Ersichtlich steht in Hinsicht auf die-
se Überproduktion eine neue Handels-Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit
kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen ,Idealisten' ein neues ,Geschäft' zu ma-
chen" (408, 16-19).
Also auch da, wo den Verlautbarungen der zweiten Historikergruppe nach
eigentlich das Leben emphatisch zu werden scheint, wittert das sich in Rage
redende „Ich" Betrug, nämlich eine besonders heimtückische Form der Wirk-
samkeit des asketischen Ideals. Und diese Camouflage erscheint nicht als Spe-
zialproblem der Historiographie, sondern als gesamtkulturelles Gebrechen, bis
hin zu den „neuesten Spekulanten in Idealismus, den Antisemiten" (407, 24 f.),
ron, aucune croyance surnaturelle ne dominait sur les esprits cultives." (Dou-
dan 1877, 3, 336. „Man hat meiner Ansicht nach nicht genau die Verheerungen
berechnet, die in den Köpfen der neueren Zeiten durch die Gewohnheit verur-
sacht wurde, das Uneinsehbare zu bewundern, anstatt einfach im Unbekann-
ten zu bleiben. Zu Ciceros Zeit beherrschte kein übernatürlicher Glaube die
kultivierten Geister.")
405, 26 elegantia syllogismi] Lateinisch: „Eleganz der Schlussfolgerung".
26.
Von asketischem Ideal infiziert sind, wie GM III 26 ausweisen will, keineswegs
nur die Naturwissenschaften und die Philosophie, sondern ebenso die Ge-
schichtswissenschaft. In der heute herrschenden Ausprägung verschreibe letz-
tere sich und ihren Lesern quasi einen Kälteschock: Sie verzichte auf jedes
Urteil, lege sich auf bloße Beschreibung fest und dringe ganz nihilistisch in
Regionen vor, in denen ewiges Eis herrsche: „Hier ist Schnee, hier ist das Le-
ben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen ,Wozu?', ,Um-
sonst!', ,Nada!' — hier gedeiht und wächst Nichts mehr" (406, 9-11). Eine ande-
re, „vielleicht noch ,modernere'" (406, 13 f.) Ausprägung, gegen die das spre-
chende „Ich" lautstarke Abneigung äußert, kann sich mit dem Nichts nicht
wirklich arrangieren und schwankt daher zwischen Leben und asketischem
Ideal. „Beschaulichkeit" (407, 10) statt kalter Beschreibung ist die Losung die-
ser Form von Geschichtsschreibung, die doch nichts weiter sei als „lüsterne[s]
Eunuchtenthum[.] vor der Historie" (407, 10 f.). Der entschiedene Widerwille
gegen diesen Typus der Historie leitet gemächlich über zu einer Gegenwarts-
diagnose, die Europa insgesamt von einem krankhaften Erregungsbedürfnis
gezeichnet sieht, von falschem Heroismus und Idealismus, die sich, wird mit
einem sarkastischen Seitenhieb auf die kulturellen und religiösen Missionsbe-
mühungen der imperialistischen europäischen Staaten vorgeschlagen, ideal
als koloniale Exportgüter eignen dürften: „Ersichtlich steht in Hinsicht auf die-
se Überproduktion eine neue Handels-Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit
kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen ,Idealisten' ein neues ,Geschäft' zu ma-
chen" (408, 16-19).
Also auch da, wo den Verlautbarungen der zweiten Historikergruppe nach
eigentlich das Leben emphatisch zu werden scheint, wittert das sich in Rage
redende „Ich" Betrug, nämlich eine besonders heimtückische Form der Wirk-
samkeit des asketischen Ideals. Und diese Camouflage erscheint nicht als Spe-
zialproblem der Historiographie, sondern als gesamtkulturelles Gebrechen, bis
hin zu den „neuesten Spekulanten in Idealismus, den Antisemiten" (407, 24 f.),