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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0607
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588 Zur Genealogie der Moral

22, 1-4. Statt Dostojewskij hat in der Druckfassung von GM III 26 Lew Nikolaje-
witsch Graf Tolstoi bei N. seinen öffentlichen Einstand. Tolstoi steht für eine
radikale christliche Mitleidsethik, mit der sich N. beim Lesen von Tolstois Be-
kenntnisbuch Ma religion (1885) vertraut gemacht hat. Insbesondere in AC
kommt N. wiederholt auf Tolstois Jesus-Verständnis zurück, vgl. z. B. NK KSA 6,
200, 1-3, zum Themenfeld umfassend Poljakova 2013 (zu GM III 26, ebd., 504),
zur in 406, 9 f. vorangehenden, winterlichen Metaphorik, die ebenfalls auf Dos-
tojewskij zurückweist, siehe Ottmann 1999, 335, Fn. 25. Der lettische Dichter
Jänis Poruks (1871-1911) hat bereits 1894 die Nähe und die Distanz zwischen
Nietzsche und Tolstoi zum Gegenstand einer zuerst auf deutsch erschienenen
Studie gemacht (Poruks 1929).
Der Ausdruck „Metapolitik", der in der Erstausgabe (Nietzsche 1887a, 175)
die „Metaphysik" des Druckmanuskripts ersetzte, ist seit dem späten 18. Jahr-
hundert in Deutschland geläufig (zur Begriffsgeschichte und den diversen Be-
deutungsauffächerungen Forschner/Hügli 1980, 1295-1298). Zu N.s Zeit nimmt
er jenen agitatorischen Sinn an, der sich heute im konterkarierenden An-
schluss an Antonio Gramsci bei Vordenkern der Neuen Rechten wie Alain de
Benoist wiederfindet (zur N.-Rezeption der Neuen Rechten vgl. Kaufmann
2018a). Dafür steht insbesondere der N. wohlbekannte politische Publizist und
Philosoph Constantin Frantz (1817-1891), der gegen das zentralistische und na-
tionalistische Reich Bismarcks auch mit antisemitischen Parolen agitierte und
in Wagner einen Bundesgenossen gefunden hat. Im ersten Jahrgang der Bay-
reuther Blätter publizierte er 1878 einen Offenen Brief an Richard Wagner, in
dem es u. a. heißt: „um wirklich deutsch zu sein muss daher die Politik über
sich selbst hinaus gehen. Sie muss sich zur Metapolitik erheben, als welche
sich zur gemeinen Schulpolitik ähnlich verhält, wie zur Physik die Metaphysik.
Unser Deutschtum geht uns dabei nicht verloren." (Frantz 1878, 169, vgl. zur
Kritik dieser „Metapolitik" bei Thomas Mann Zimmermann 2017, 135 f.) Wahr-
scheinlicher ist es allerdings, dass N. in GM III 26 den Begriff der Metapolitik
aus Hans Lassen Martensens Christlicher Ethik (vgl. z. B. NK 339, 2) geborgt hat.
Martensen handelt an der fraglichen Stelle von der sozialen und staatstragen-
den Dimension des Christentums: „Seine weitgreifende Bedeutung liegt nicht
sowohl in Dem, was es geradezu Politisches aussagt, als vielmehr in dem
Ueberpolitischen, welches durch das Christenthum in die Welt /121/ einge-
führt ist, dem Metapolitischen, worunter wir Dasjenige verstehen, was dem
Politischen vorausgeht, als dessen Voraussetzung, was jenseits des Politischen
und über dasselbe hinausliegt, als dessen Zweck und Ziel, wovon aber das
Politische durchdrungen werden soll, als der Seele desselben, dem geistig Be-
lebenden darin. Das Metapolitische besteht eben in der maßgebenden An-
schauung von dem Menschen, von der menschlichen Natur und dem End-
 
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