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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0068
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Stellenkommentar WA 2, KSA 6, S. 15 49

„Wer sich über die Nachbarschaft des Tristan und der Meistersinger befremdet
fühlen kann, hat das Leben und Wesen aller wahrhaft grossen Deutschen in
einem wichtigen Puncte nicht verstanden: er weiss nicht, auf welchem Grunde
allein jene eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit Luther's, Beetho-
ven's und Wagner's erwachsen kann, die von anderen Völkern gar nicht ver-
standen wird und den jetzigen Deutschen selber abhanden gekommen
scheint — jene goldhelle durchgegohrene Mischung von Einfalt, Tiefblick der
Liebe, betrachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit, wie sie Wagner als den köst-
lichsten Trank allen Denen eingeschenkt hat, welche tief am Leben gelitten
haben und sich ihm gleichsam mit dem Lächeln der Genesenden wieder
zukehren." Die Metaphorik vom Leiden am Leben und von der Genesung kehrt
als Muster der Selbstinterpretation in N.s Schriften von 1888 wieder, so etwa
im Vorwort von WA. Das Schema seiner früheren Wagner-Deutung überträgt
N. jetzt auf sich selbst.
15, 17 f. Wir blicken dabei hinaus: sahen wir je das Meer glätter?] Wagner
hatte demgegenüber eine metaphorische Vorliebe für das aufgewühlte Meer,
vgl. z. B. Oper und Drama (1850-1851), 3. Theil, Kapitel III: „Das bodenlose
Meer der Harmonie, aus dem ihm jene beseligende Erscheinung entgegen-
tauchte, ist ihm kein Gegenstand der Scheu, der Furcht, des Grausens mehr
[...]; nicht nur auf den Wogen dieses Meeres vermag er nun zu schwimmen,
sondern — mit neuen Sinnen begabt — taucht er jetzt bis auf den tiefsten
Grund hinab." (Wagner 1871-1873, 4, 184 = Wagner 1907, 4, 146 f.).
15, 18-20 Und wie uns der maurische Tanz beruhigend zuredet! Wie in seiner
lasciven Schwermuth selbst unsre Unersättlichkeit einmal Sattheit lernt!] Im
19. Jahrhundert wandert die populäre Musik Andalusiens in die klassische
Musik ein, insbesondere der Flamenco. N. assoziiert „Süden, Heiterkeit" und
„Liebe" mit dem maurischen Tanz (NL 1888, KSA 13, 16[74], 510, 3 f.); er gilt
als „Antideutsch" (NL 1887/88, KSA 13, 11[49], 24, 9 f. = KGW IX 7, W II 3, 178,
42). Bizet bleibt bei diesen Nachlassnotizen zum maurischen Tanz im Blick
(vgl. NL 1888, KSA 13, 12[1](319), 209, 11). Konkret ist damit der Kastagnetten-
Tanz im 2. Akt von Carmen gemeint, zu dem N. im Klavierauszug vermerkt:
„Ideal aller Castagnetten-Musik." (Daffner o. J., 41).
15, 21 f. Endlich die Liebe, die in die Natur zurückübersetzte Liebe!] Im Car-
men-Klavierauszug notiert er beim tragischen Doppeltakt: „Ein Epigramm auf
die Leidenschaft, das Beste, was seit Stendhal sur l'amour geschrieben worden
ist." (Daffner o. J., 19) Zu Carmens Habanera heißt es: „Eros, wie die Alten ihn
empfanden — verführerisch spielend boshaft dämonisch unbezwinglich. Zum
Vortrag gehört eine wahre Hexe. — Ich weiß diesem Liede nichts Ähnliches —
 
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