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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0078
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Stellenkommentar WA 3, KSA 6, S. 17 59

seine Unfreiheit gerade darin, dass er kein Mittel mehr hat, sich des goldenen
Ringes, des Inbegriffs aller Erdenmacht und zugleich der höchsten Gefahren
für ihn selbst, so lange er in dem Besitze seiner Feinde ist, zu bemächtigen:
die Furcht vor dem Ende und der Dämmerung aller Götter überkommt ihn
und ebenso die Verzweifelung darüber, diesem Ende nur entgegensehen, nicht
entgegenwirken zu können. Er bedarf des freien furchtlosen Menschen, wel-
cher, ohne seinen Rath und Beistand, ja im Kampfe wider die göttliche Ord-
nung, von sich aus die dem Gotte versagte That vollbringt: er sieht ihn nicht
und gerade dann, wenn eine neue Hoffnung noch erwacht, muss er dem
Zwange, der ihn bindet, gehorchen: durch seine Hand muss das Liebste ver-
nichtet, das reinste Mitleiden mit seiner Noth bestraft werden. [...] Das alles
schaut der Gott, dem der waltende Speer im Kampfe mit dem Freiesten zerbro-
chen ist und der seine Macht an ihn verloren hat, voller Wonne am eigenen
Unterliegen, voller Mitfreude und Mitleiden mit seinem Ueberwinder: sein
Auge liegt mit dem Leuchten einer schmerzlichen Seligkeit auf den letzten
Vorgängen, er ist frei geworden in Liebe, frei von sich selbst." Hier wird also
auch Wotan Erlösung zuteil — und N. schreckt nicht davor zurück, Wotans
Schicksal zum Paradigma menschlichen Seins zu stilisieren: „Wo sind unter
euch die Menschen, welche das göttliche Bild Wotan's sich nach ihrem Leben
zu deuten vermögen und welche selber immer grösser werden, je mehr sie,
wie er, zurücktreten?" (KSA 1, 509, 22-24).
Erlösung und Erlösungsbedürftigkeit galten in UB IV WB auch für N. noch
als zentrale Kategorien der menschlichen Selbstdeutung. N. hatte den ganzen
Passus aus seinem Werk von 1876 im Jahr 1888 wieder gelesen, als er ihn in
Nohls Wagner-Biographie zitiert fand (Nohl o. J., 95 f., vgl. NK KSA 6, 324,
8 f.). 17, 11-14 verschleiert, dass es sich beim „alten Gott" nicht etwa um den
christlichen, sondern um den germanischen handelt und suggeriert damit eine
Nähe von Wagners Unternehmen zu N.s eigenem atheistischen Immoralismus.
Dies eröffnet den Assoziationshorizont zum Tod auch des christlichen Gottes,
von dem in FW 125, KSA 3, 480-482 berichtet wird. Das Götterende wirkt nach
N. befreiend: „In der That, wir Philosophen und ,freien Geister' fühlen uns bei
der Nachricht, dass der ,alte Gott todt' ist, wie von einer neuen Morgenröthe
angestrahlt." (FW 343, KSA 3, 574, 16-18) Wagner, so zeigt WA im Fortgang,
ist freilich dieser Befreiung nicht gewachsen und sucht neue Sicherheiten im
Christentum, das N. für ebenso überwindungsbedürftig hält wie die germani-
sche Religion.
17, 11-14 lässt sich auch als Anspielung auf Parallelen im Verhältnis von
Wagner zu N. und von Wotan zu Siegfried verstehen: Wotan, der sein eigenes
Ende nahen sieht (und es bejaht, nachdem es keine Möglichkeiten mehr gibt,
sich selbst aus seinen Verstrickungen zu befreien), auf seine Macht verzichtet
 
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