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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0122
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Stellenkommentar WA 6, KSA 6, S. 26 103

Tagebucheintrag Cosimas vom 07. 12. 1869 sagt explizit, wer mit den „Muckern"
gemeint ist, nämlich „die Schumannianer" (C. Wagner 1988, 1, 176). N. wendet
also einen schon alten Vorwurf gegen Wagner, den dieser gemeinsam mit
Cosima auf seine eigenen Gegner, die Anhänger Robert Schumanns, umgewid-
met hatte, wiederum auf Wagner an.
26, 14 sit venia verbo] Lateinisch: „man verzeihe das Wort".
26, 14-22 Und wählen wir die Stunde, wo es sich schickt, schwarz zu blicken,
öffentlich zu seufzen, christlich zu seufzen, das grosse christliche Mitleiden zur
Schau zu stellen. „Der Mensch ist verderbt: wer erlöst ihn? was erlöst
ihn?" — Antworten wir nicht. Seien wir vorsichtig. Bekämpfen wir unsern Ehr-
geiz, welcher Religionen stiften möchte. Aber Niemand darf zweifeln, dass wir
ihn erlösen, dass unsre Musik allein erlöst... (Wagner's Aufsatz „Religion und
Kunst".)] In dem 1880 in den Bayreuther Blättern erschienenen Aufsatz Religion
und Kunst, der parallel zum Parsifal entstand, projektiert Wagner eine Rettung
der dogmatisch und institutionell versteinerten Religion durch die Kunst.
Dabei hat diese Kunst-Religion einen stark pessimistischen Einschlag, sieht
Wagner doch in der Verneinung des Willens sowohl den Kern des Buddhismus
als auch des Christentums. Für Wagner ist die „Hinfälligkeit der Welt, ja [...]
Verderbtheit und Schlechtigkeit der Menschen" offenkundig (Wagner 1907, 10,
256. In N.s Bibliothek hat sich keine Ausgabe von Wagners Religion und Kunst
erhalten). Durch das im Kreuzestod Christi symbolisch verdichtete Mitleid
könne die Herrschaft der Gewalt und des Leidens überwunden werden; die
Musik (Wagners) ermöglicht dabei einen unmittelbaren Einblick sowohl in das
Wesen der Welt als auch in das Versprechen der Erlösung: „Über alle Denkbar-
keit des Begriffes hinaus, offenbart uns aber der tondichterische Seher das
Unaussprechbare: wir ahnen, ja wir fühlen und sehen es, daß auch diese un-
entrinnbar dünkende Welt des Willens nur ein Zustand ist, vergehend vor dem
Einen: ,Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!"' (Wagner 1907, 10, 250 f.; auch zitiert
in Glasenapp / Stein 1883, 155). Diese Denkrichtung führt dann zu einer in
romantischer Tradition stehenden, weitgehenden Identifikation von Religion
und Kunst in welterlösender Absicht: „Da es mir möglich geworden ist, [...] zu
der Überzeugung davon zu gelangen, daß wahre Kunst nur auf der Grundlage
wahrer Sittlichkeit gedeihen kann, durfte ich der ersteren einen um so höheren
Beruf zuerkennen, als ich sie mit wahrer Religion vollkommen Eines erfand."
(Wagner 1907, 251; auch zitiert in Glasenapp / Stein 1883, 662) Und dennoch
verzichtet Wagner, wie N. in 26, 19 f. anführt, vorgeblich bescheiden auf den
Anspruch, eine Religion zu stiften: „,Wollen Sie etwa eine Religion stiften?'
dürfte der Verfasser dieses Aufsatzes befragt werden. Als solcher würde ich
nun frei bekennen, daß ich dieß für [...] unmöglich halte" (Wagner 1907, 251).
Zum Mitleiden siehe NK 29, 14 f.
 
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