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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0223
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204 Götzen-Dämmerung

sondern auch der decadence, des physiologischen Niedergangs, dessen „In-
stinkte in Anarchie" gewesen seien. Daher hätten sich die Philosophen — mit
Hilfe von Vernunft und Dialektik — fortan auf die Bekämpfung der Instinkte
verlegt, anstatt wie im aufsteigenden Leben Instinkt mit Glück zu identifizie-
ren. Decadence erweist sich als ein Hauptthema von GD.
Im dritten Kapitel „Die ,Vernunft' in der Philosophie" wird diese Vernunft-
kritik verallgemeinert und radikalisiert. Die Philosophen, so N., leiden an
einem „Mangel an historischem Sinn" (GD Die „Vernunft" in der Philosophie 1,
KSA 6, 74, 4), was zugleich bedeutet, dass sie das Werden und die Sinnlichkeit
negieren wollen. Überdies setzen sie „die allgemeinsten, die leersten Begriffe,
den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als Anfang" (GD
Die „Vernunft" in der Philosophie 4, KSA 6, 76, 17 f.). So werde das Irrealste,
nämlich das bloß Begriffliche zur eigentlichen Realität hypostasiert. Zugleich
zeigt N. die erhebliche Verführungs- und Täuschungskraft der Sprache auf: Sie
verleite die Menschen zu Vernunft-Irrtümern, indem sie das wirkliche Vorhan-
densein von Begriffen wie Ich, Sein oder Wille als Vermögen suggeriere. Aber
es gebe diese doch wohl nur als Sprachprodukte. Auch Gott würden wir
womöglich nicht los, weil wir noch dem Glauben an die Grammatik verfallen
seien. Die vorangegangenen Kapitel hatten sich der Psychologie und Physiolo-
gie zum Aushorchen der Götzen bedient. Hier hingegen ist die Sprachkritik
das Werkzeug.
Das vierte Kapitel „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" verdich-
tet die aus Sprach- und Vernunft-Kritik gewonnene Einsicht in einer thesenar-
tig verknappten Erzählung: Platon tritt da als Erfinder einer wahren geistigen
Welt jenseits der bloß „scheinbaren" sinnlichen Welt auf. Diese „wahre Welt"
durchläuft dann einen Prozess der Christianisierung und Kantianisierung,
bevor sie schließlich als überflüssig abgetan werden kann.
Das fünfte Kapitel „Moral als Widernatur" nimmt den Kampf mit einer
Moral auf, die Leidenschaften und Begierden, überhaupt die Sinnlichkeit
unterdrücke. Vielmehr müsse jede „gesunde Moral" (GD Moral als Widerna-
tur 4, KSA 6, 85, 17) von einem „Instinkte des Lebens" (85, 24) bestimmt wer-
den, während Moral bislang der „Verurtheilung dieser Instinkte" (85, 25)
gedient habe. Diese Verurteilung habe dem Interesse kranken Lebens, dem
Priestertypus gehorcht.
Das sechste, „Die vier grossen Irrthümer" betitelte Kapitel betont, der
„Irrthum der Verwechslung von Ursache und Folge" (GD Die vier
grossen Irrthümer 1, KSA 6, 88, 3) sei in Moral und Religion direkt sichtbar.
Der „Irrthum einer falschen Ursächlichkeit" (GD Die vier grossen
Irrthümer 3, KSA 6, 90, 13) besteht nach N. darin, nicht zu wissen, was eigent-
lich eine Ursache sei, und eine solche beispielsweise in ,„inneren Thatsachen'"
 
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