Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0222
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar 203

4 Konzeption und Struktur
GD ist ein Text, der durch seine chamäleonhafte Vielgestaltigkeit sowohl in
formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht die Leser herausfordert. Formal
erprobt N. alle möglichen Textgattungen: von Epigramm und Sentenz zum
Aphorismus (als dessen Meister er sich rühmt, vgl. NK 153, 7-13 u. 154, 12-
19), von der Abhandlung zum Essay, von der Erzählung zum Kurzdrama, vom
autobiographischen Bericht zum Prosagedicht. Auch die Stilhöhen werden
vielfach variiert und abgeschattet; vom genus humile über das genus medium
bis hin zum genus sublime ist alles vertreten: „in Anbetracht, dass die Vielheit
innerer Zustände bei mir ausserordentlich ist, giebt es bei mir viele Möglichkei-
ten des Stils — die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein
Mensch verfügt hat" (EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 8-
12).
GD verzichtet auf eine eindeutige philosophische Lehre, zu der man sich
als Leser entweder negativ oder affirmativ verhalten und damit in ein klares
Verhältnis zum Text und zu seinem Verfasser treten könnte. Vielmehr wird
der Leser ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Es gibt keinen
durchgehenden roten Faden, der dem Leser Erholung gestattet, sondern allen-
falls Motivgruppen, die eine gewisse Orientierung erlauben. Immerhin meinen
manche Interpreten, die Gesamtanlage von GD entspreche der klassischen
Sonatenform (Gillespie 1988, 120). Mit dem Leser wird in GD so umgegangen,
als ob er ein Versuchstier wäre: GD lässt sich als ein Experiment am Leser
begreifen, wie er denn auf bestimmte Reize reagiert, wie „hohl" er klingt (vgl.
GD Vorwort, KSA 6, 57, 23) und wie er sich als Resonanzkörper ausnimmt,
wenn man ihn mit der Stimmgabel traktiert (vgl. GD Vorwort, KSA 6, 58, 12).
Insofern lebt der Text von der durch Überraschung ständig erneuerten Provo-
kationskraft, die den Leser zu fortwährender Neubestimmung seines Stand-
punktes zwingt.
Die Schrift umfasst — neben Vorwort und einem aus dem dritten Teil von
Also sprach Zarathustra zitierten Passus am Schluss unter der Überschrift „Der
Hammer redet" — zehn nicht durchnummerierte Kapitel von unterschiedlicher
Länge und Machart. Das erste Kapitel „Sprüche und Pfeile" ist eine Sammlung
von 44 sehr kurzen, an die französische Moralistik erinnernden Sentenzen.
Thematisch decken sie ein weites Spektrum ab und zielen auf äußerste Zuspit-
zung. Mit der Reflexion auf Psychologie und ihre moralzersetzende Dimension
beginnt bereits der erste Spruch.
Demgegenüber hat das zweite Kapitel „Das Problem des Sokrates" Abhand-
lungscharakter. Es erneuert die schon in der Geburt der Tragödie artikulierte
Sokrates-Kritik. Sokrates erscheint als ein Repräsentant nicht nur des „Pöbels",
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften