162 Der Fall Wagner
Beginn seiner Autobiographie kundtut, nämlich durch dieses Werk zu verhin-
dern, dass jemand nach seinem Tod eine Biographie publizieren werde, die,
„hätte sie auch keinen weiteren Mangel, doch gewiß minder wahrhaft ausfallen
wird, als die, welche ich selbst geben kann. [...] Damit jedoch diese meine
Lebensgeschichte für weniger mangelhaft und etwas mehr wahrhaft, und für
nicht minder unpartheiisch als jede andre, die jemand nach mir schreiben
möchte, gelten kann; so verpflichtete ich, der ich stets mehr gehalten als ver-
sprochen habe, mich hiermit gegen mich selbst und gegen jeden, der mich
wird lesen wollen, allen Leidenschaften zu entsagen" (Alfieri 1812, 1, 5; dop-
pelte Anstreichung am Rand von N.s [?] Hand). Der ,autobiographische Pakt'
(Philippe Lejeune), den Alfieri hier seinen Lesern anbietet, macht also gerade
jene absolute Redlichkeit zur Voraussetzung einer Lektüre, die N. Alfieri
abspricht. N. geht den angebotenen autobiographischen Pakt nicht ein. Wenn
er Alfieri (oder Wagner) liest, dann liest er ihn symptomatisch: Er will das
sehen, was Alfieri (oder Wagner) sich selbst und seinen Lesern zu verhehlen
trachtet.
12
39, 30 f. Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird.] Die
Formel „Kunst zu lügen" kommt bei N. sonst nur noch in NL 1888, KSA 13,
23[9], 611 vor, und zwar dort gemünzt gegen die Antisemiten, die diese Kunst
ihrerseits den Jesuiten vorwerfen. Im antisemitischen Milieu des 19. Jahrhun-
derts ist die Formel recht geläufig, vgl. z. B. Reinsberg-Düringsfeld 1863, 1, 48:
„der Zigeuner wird fast noch mehr verachtet, als der Jude, dem er in der Kunst
zu lügen und zu betrügen den Vorrang streitig macht".
Nachschrift
40, 2-6 — Der Ernst der letzten Worte erlaubt mir, an dieser Stelle noch einige
Sätze aus einer ungedruckten Abhandlung mitzutheilen, welche zum Mindesten
über meinen Ernst in dieser Sache keinen Zweifel lassen. Jene Abhandlung ist
betitelt: Was Wagner uns kostet.] In W II 7, 57 lautet dieser Passus:
„Anmerkung. Der Ernst der letzten Worte erlaubt mir, einige Sätze aus einer
ungedruckten Abhandlung (,Richard Wagner physiologisch widerlegt') hinzu-
zufügen:" (KSA 14, 408). Den Abhandlungscharakter der Nachschrift unter-
streicht deren Gliederung in fünf Absätze (nach der Einleitung 40, 2-6), die
Beginn seiner Autobiographie kundtut, nämlich durch dieses Werk zu verhin-
dern, dass jemand nach seinem Tod eine Biographie publizieren werde, die,
„hätte sie auch keinen weiteren Mangel, doch gewiß minder wahrhaft ausfallen
wird, als die, welche ich selbst geben kann. [...] Damit jedoch diese meine
Lebensgeschichte für weniger mangelhaft und etwas mehr wahrhaft, und für
nicht minder unpartheiisch als jede andre, die jemand nach mir schreiben
möchte, gelten kann; so verpflichtete ich, der ich stets mehr gehalten als ver-
sprochen habe, mich hiermit gegen mich selbst und gegen jeden, der mich
wird lesen wollen, allen Leidenschaften zu entsagen" (Alfieri 1812, 1, 5; dop-
pelte Anstreichung am Rand von N.s [?] Hand). Der ,autobiographische Pakt'
(Philippe Lejeune), den Alfieri hier seinen Lesern anbietet, macht also gerade
jene absolute Redlichkeit zur Voraussetzung einer Lektüre, die N. Alfieri
abspricht. N. geht den angebotenen autobiographischen Pakt nicht ein. Wenn
er Alfieri (oder Wagner) liest, dann liest er ihn symptomatisch: Er will das
sehen, was Alfieri (oder Wagner) sich selbst und seinen Lesern zu verhehlen
trachtet.
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39, 30 f. Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird.] Die
Formel „Kunst zu lügen" kommt bei N. sonst nur noch in NL 1888, KSA 13,
23[9], 611 vor, und zwar dort gemünzt gegen die Antisemiten, die diese Kunst
ihrerseits den Jesuiten vorwerfen. Im antisemitischen Milieu des 19. Jahrhun-
derts ist die Formel recht geläufig, vgl. z. B. Reinsberg-Düringsfeld 1863, 1, 48:
„der Zigeuner wird fast noch mehr verachtet, als der Jude, dem er in der Kunst
zu lügen und zu betrügen den Vorrang streitig macht".
Nachschrift
40, 2-6 — Der Ernst der letzten Worte erlaubt mir, an dieser Stelle noch einige
Sätze aus einer ungedruckten Abhandlung mitzutheilen, welche zum Mindesten
über meinen Ernst in dieser Sache keinen Zweifel lassen. Jene Abhandlung ist
betitelt: Was Wagner uns kostet.] In W II 7, 57 lautet dieser Passus:
„Anmerkung. Der Ernst der letzten Worte erlaubt mir, einige Sätze aus einer
ungedruckten Abhandlung (,Richard Wagner physiologisch widerlegt') hinzu-
zufügen:" (KSA 14, 408). Den Abhandlungscharakter der Nachschrift unter-
streicht deren Gliederung in fünf Absätze (nach der Einleitung 40, 2-6), die