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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0263
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244 Götzen-Dämmerung

dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet,
wird kein Mensch beraubt: / Bösewichter haben keine Lieder." (Seume 1825,
425) 62, 17 f. greift zurück auf NL 1888, KSA 13, 18[9], 535, 1-8: „Die russische
Musik bringt mit einer rührenden Einfalt die Seele des moujik, des niederen
Volks ans Licht. Nichts redet mehr zu Herzen als ihre heiteren Weisen, die
allesamt traurige Weisen sind. Ich würde das Glück des ganzen Westens eintau-
schen gegen die russische Art, traurig zu sein. — Aber wie kommt es, daß die
herrschenden Classen Rußlands nicht in seiner Musik vertreten sind? Genügt
es zu sagen ,böse Menschen haben keine Lieder'?" Dort wird eine soziologische
Unterscheidung zwischen den armen moujik und den herrschenden Klassen
eingeführt, die in der Druckfassung entfällt. Bei Hellwald 1878, 2, 269 konnte
N. von den „bösen Eigenschaften" der führungsbedürftigen Muschiken lesen —
eine Quelle, die auch gegenüber den höheren Schichten nicht gerade freund-
lich gestimmt ist. Die Weißrussen hingegen seien feiner organisiert und liebten
Musik und Gesang (Hellwald 1878, 2, 270, vgl. auch Hellwald 1877a, 2, 589-
591). Allerdings spricht die Schreibweise „moujik" in 18[9] für eine französische
Quelle. In einem Artikel über die russische Religion in der Revue des deux
mondes hatte Anatole Leroy-Beaulieu die Musikbegeisterung des niederen rus-
sischen Landvolks betont, die sie für die musikalischen Aspekte der orthodo-
xen Liturgie empfänglich machten: „Le chant religieux a ainsi ete de tout
temps en honneur. Toutes les classes y sont fort sensibles. Rien n'attire le
moujik ä l'eglise comme de beaux choeurs et de belles voix. En certains villa-
ges, on a remarque que le paysan delaissait les offices lorsque le chant y etait
neglige." (Leroy-Beaulieu 1887, 857. „Der religiöse Gesang wurde somit über
alle Zeiten in Ehren gehalten. Alle Klassen sind sehr empfänglich dafür. Nichts
zieht den moujik so sehr in die Kirche wie schöne Choräle und schöne Stim-
men. In manchen Dörfern, so hat man festgestellt, gingen die Bauern sogar
überhaupt nicht mehr in die Gottesdienste, wenn der Gesang vernachlässigt
wurde.") Als direkte Quelle von 18[9] in Frage kommt auch Leroy-Beaulieus
u. a. ins Deutsche übersetztes (vgl. Anonym 1884) Standardwerk L'Empire des
Tsars et les Russes, wo im ersten Band beispielsweise zu lesen ist: „C'est dans
la poesie et la musique populaires, dans les pesny et les chansons de la
Grande-Russie que Herzen appelait des larmes sonores, dans ces airs d'un
rythme lent et en tons mineurs, que perce le mieux la melancolie du sol et du
climat. Entre les chants russes et les canzoni de Naples ou de Sicile, qui sont
comme impregnes de soleil, il y a toute la distance des antipodes. Dans les
chants du peuple une teinte de tristesse douce colore de nuances elegiaques
le fond realiste du caractere national; dans la litterature et la poesie cultivee,
cette tristesse prend une saveur plus penetrante et plus amere." (Leroy-Beau-
lieu 1883, 156. „In der Poesie und der Volksmusik, in den Pesny und den russi-
 
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