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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0270
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Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 63-64 251

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64, 9-12 Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren
Ehrbegriff; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern die Lüge,
durch ein göttliches Gebot, verboten ist. Zu feige, um zu lügen...] Vgl. zu N.s
eigener moralkritischer Positionierung am Beispiel der Lüge z. B. NL 1883, KSA
10, 7[37], 254, 14-22: „Gäbe es eine absolute Moral, so würde sie verlangen,
daß unbedingt der Wahrheit gefolgt werde: folglich, daß ich und die
Menschen an ihr zu Grunde gehen. — Dies mein Interesse an der
Vernichtung der Moral. Um leben und höher werden zu können — um
den Willen zur Macht zu befriedigen, müßte jedes absolute Gebot
beseitigt werden. Für den mächtigsten Menschen ist auch die Lüge
ein erlaubtes Mittel, beim Schaffen: ganz so verfährt die Natur."
Schon in UB II HL 4, KSA 1, 272, 9 hatte N. der Historie als Wissenschaft
den Leitspruch attestiert: „fiat veritas pereat vita" und damit ihre tendentielle
Lebensfeindlichkeit um der Wahrheit willen behauptet (in der Version „fiat
veritas, pereat mundus" — NL 1873, KSA 7, 29[8], 623, 27 f. — gibt es den Aus-
spruch übrigens schon beim Dichter und Shelley-Biographen Thomas Medwin,
vgl. Medwin 1834, 1, 281). In MA I 54, KSA 2, 73 f. hatte N. die verhältnismäßige
Seltenheit der Lüge in der Alltagskommunikation weniger im göttlichen Lügen-
verbot (nach Exodus 20) als in der Bequemlichkeit begründet gesehen. AC 52,
KSA 6, 233, 14 f. sieht demgegenüber den christlichen Theologen prinzipiell zur
Lüge verurteilt. Die Notiz NL 1887/88, KSA 13, 11[115], 54, 29-55, 21 (korrigiert
nach KGW IX 7, W II 3, 148, 54-60-149, 44-62, im Folgenden in der von N.
überarbeiteten Fassung ohne durchgestrichene Passagen wiedergegeben), die
sowohl 64, 9-12 wie AC 52 vorwegnimmt, baut die Frage der Lüge in einen
größeren erkenntniskritischen Zusammenhang ein, der wiederum in GD Wie
die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde aufgenommen wird: „In einer Welt,
die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Ten-
denz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen
höheren Potenz von Falschheit: damit eine Welt des Wahren, Seien-
den fingirt werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (ein-
gerechnet, daß ein solcher sich ,wahrhaftig' glaubt) / Einfach, durchsichtig,
mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte,
Volte, Vorhang, Form: ein Mensch der Art concipirt eine Welt des Seins als
,Gott' nach seinem Bilde. / Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze
Sphäre des Menschen sehr sauber und klein achtbar sein: es muß der Vor-
theil in jedem Sinne auf Seiten des Wahrhaftigen sein. — Lüge, Tücke, Ver-
stellung müssen Erstaunen erregen. / Der Haß gegen die Lüge und die Verstel-
lung aus Stolz, aus einem reizbaren Ehrbegriff/;) aber es giebt einen solchen
 
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