250 Götzen-Dämmerung
genealogische Frage nach den Gründen für den Machtverlust des Gewissens,
und damit der religiösen (Selbst-)Disziplinierung ist keineswegs Ausdruck
einer Sehnsucht, zur Herrschaft der Gewissensbisse zurückzukehren, sondern
das analytische Pendant zur offenen Kritik am Gewissensbiss, vgl. NK 60, 14-
16. Die Assoziation des Gewissens mit Beißen, die auf den Nachteil des Gewis-
sens für das Leben aufmerksam macht, ist bei N. recht häufig, vgl. z. B. Za II
Von den Mitleidigen, KSA 4, 114, 24 f.: „Glaubt mir, meine Freunde: Gewissens-
bisse erziehn zum Beissen." MA II WS 38, KSA 2, 569, 24 f.: „Der Gewissensbiss
ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit." GM II 15,
KSA 5, 320, 21 f.: „morsus conscientiae". Zu 63, 18-20 gibt NL 1887, KSA
12, 10[145], 538, 7-10 (KGW IX 6, W II 2, 44, 25-34) eine Vorarbeit, die den
genetischen Zusammenhang von GD Sprüche und Pfeile 29 sowie GD Sprüche
und Pfeile 37, 38, 40 und 41 zeigt. Notiz 10[145] ist mitgeteilt in NK 65, 9-11.
30
63, 22-64,3 Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung
thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite —
und nunmehr thut man zu wenig...] Vgl. als ein Anschauungsbeispiel JGB 120,
KSA 5, 94.
31
64, 5-7 Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die
Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral:
Demuth.] Das Motiv des sich krümmenden Wurms kehrt wieder in GD Streif-
züge eines Unzeitgemässen 3, KSA 6, 112, 30 f., dort in der Nutzanwendung auf
Sainte-Beuve. Vgl. NL 1886/87, KSA 12, 7[4], 269, 1-6: „die ganzen Gebärden
und Worte der Unterwürfigkeit; ,als in welcher Pedanterie die Deutschen (es)
unter allen Völkern der Erde am weitesten gebracht haben' ,sind das nicht
Beweise eines ausgebreiteten Hangs zur Kriecherei unter den Menschen?' ,Wer
sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen
getreten wird.'" Die Zitate stammen aus Kants Metaphysik der Sitten (Zweiter
Teil: Tugendlehre, 1. Ethische Elementarlehre, 1. Theil, 1. Buch, 2. Hauptstück,
III. Von der Kriecherei, § 12. Casuistische Fragen), jedoch hat N. sie nicht im
Original, sondern im zweiten Kant-Band von Kuno Fischers Geschichte der neu-
ern Philosophie (Fischer 1860, 4, 264 f. = Fischer 1889, 4, 187) gefunden. Vgl.
auch Psalm 22, 7: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch".
genealogische Frage nach den Gründen für den Machtverlust des Gewissens,
und damit der religiösen (Selbst-)Disziplinierung ist keineswegs Ausdruck
einer Sehnsucht, zur Herrschaft der Gewissensbisse zurückzukehren, sondern
das analytische Pendant zur offenen Kritik am Gewissensbiss, vgl. NK 60, 14-
16. Die Assoziation des Gewissens mit Beißen, die auf den Nachteil des Gewis-
sens für das Leben aufmerksam macht, ist bei N. recht häufig, vgl. z. B. Za II
Von den Mitleidigen, KSA 4, 114, 24 f.: „Glaubt mir, meine Freunde: Gewissens-
bisse erziehn zum Beissen." MA II WS 38, KSA 2, 569, 24 f.: „Der Gewissensbiss
ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit." GM II 15,
KSA 5, 320, 21 f.: „morsus conscientiae". Zu 63, 18-20 gibt NL 1887, KSA
12, 10[145], 538, 7-10 (KGW IX 6, W II 2, 44, 25-34) eine Vorarbeit, die den
genetischen Zusammenhang von GD Sprüche und Pfeile 29 sowie GD Sprüche
und Pfeile 37, 38, 40 und 41 zeigt. Notiz 10[145] ist mitgeteilt in NK 65, 9-11.
30
63, 22-64,3 Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung
thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite —
und nunmehr thut man zu wenig...] Vgl. als ein Anschauungsbeispiel JGB 120,
KSA 5, 94.
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64, 5-7 Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die
Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral:
Demuth.] Das Motiv des sich krümmenden Wurms kehrt wieder in GD Streif-
züge eines Unzeitgemässen 3, KSA 6, 112, 30 f., dort in der Nutzanwendung auf
Sainte-Beuve. Vgl. NL 1886/87, KSA 12, 7[4], 269, 1-6: „die ganzen Gebärden
und Worte der Unterwürfigkeit; ,als in welcher Pedanterie die Deutschen (es)
unter allen Völkern der Erde am weitesten gebracht haben' ,sind das nicht
Beweise eines ausgebreiteten Hangs zur Kriecherei unter den Menschen?' ,Wer
sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen
getreten wird.'" Die Zitate stammen aus Kants Metaphysik der Sitten (Zweiter
Teil: Tugendlehre, 1. Ethische Elementarlehre, 1. Theil, 1. Buch, 2. Hauptstück,
III. Von der Kriecherei, § 12. Casuistische Fragen), jedoch hat N. sie nicht im
Original, sondern im zweiten Kant-Band von Kuno Fischers Geschichte der neu-
ern Philosophie (Fischer 1860, 4, 264 f. = Fischer 1889, 4, 187) gefunden. Vgl.
auch Psalm 22, 7: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch".