Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 68-69 269
griechischen Wesen ursprünglich fremd ist, anderntheils eine bis dahin unbe-
kannte Vertiefung in sein Inneres". Zeller nimmt weiter auf die Silenhaftigkeit
von Sokrates' Physiognomie Bezug (Platon: Symposium 215; Xenophon: Sympo-
sium 4, 19 f.), die „dem Blicke des Griechen den Genius eher verhüllen als
andeuten; aber auch in den Reden und dem Benehmen des Sokrates lässt sich
eine gewisse Verstandespedanterie und eine ungriechische Gleichgültigkeit
gegen die sinnliche Schönheit der Form nicht verkennen" (Zeller 1859, 2, 60).
Diese leise kritischen Anmerkungen werden in N.s Sokrates-Adaption radikali-
siert.
68, 30-32 Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten,
durch Kreuzung gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als
niedergehende Entwicklung.] Brobjer 1999a, 357 sieht hier einen Bezug zu
Galton 1883, 42-45, der über die Erblichkeit der kriminellen Natur sowie über
die Hässlichkeit der Verbrecher spricht.
69, 1-3 Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische
Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.] Die Quelle
ist Charles Feres Degenerescence et criminalite, ein Werk, das N. 1888 einer
eingehenden Lektüre unterzogen hat: „Ce n'est pas que je veuille amoindrir la
valeur de l'oeuvre de M. Lombroso et de ses emules: si nous savions que le
caractere principal du criminel est d'etre laid, ,monstrum in fronte, monstrum
in animo', les anthropologistes ont fait l'histoire naturelle de cette laideur, et
personne ne peut prevoir quelle sera la portee des faits importants qu'ils ont
mis en lumiere." (Fere 1888, 80; von N. Unterstrichenes kursiviert. „Nicht dass
ich den Wert des Werks von Herrn Lombroso und seinen Nacheiferern schmä-
lern wollte: wenn wir wüssten, dass es die Haupteigenschaft eines Kriminellen
ist hässlich zu sein, ,ein Ungeheuer im Angesicht, ein Ungeheuer im Geiste';
die Anthropologen haben die Naturgeschichte dieser Hässlichkeit geschrieben
und niemand kann vorhersehen, welche Tragweite die Tatsachen haben wer-
den, die sie ans Licht gebracht haben.").
N.s Interesse an einer Physiologisierung und Pathologisierung scheinbar
so hehrer Gegenstände wie Geist und Kultur fand in der Lektüre Feres, der als
Schüler von Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpetriere ein bedeutender
physiologischer Experimentator und Theoretiker war, wichtige Nahrung. Dies
belegen zahlreiche Exzerpte im Nachlass 1888 (Konkordanz bei Lampl 1986,
250-264). N. erweist sich als gründlicher Kenner der Medizin-Diskurse seiner
Zeit, die er mit den kultur- und stilkritischen Diskursen amalgamiert. Beson-
ders deutlich ist dies beim Begriff der Degenerescenz und decadence, vgl. NK
67, 18 u. 71, 14. Die Pathologisierung des Sokrates hat übrigens ihre Parallele
in der Selbstpathologisierung N.s im Vorwort zu WA, KSA 6, 11 f.
griechischen Wesen ursprünglich fremd ist, anderntheils eine bis dahin unbe-
kannte Vertiefung in sein Inneres". Zeller nimmt weiter auf die Silenhaftigkeit
von Sokrates' Physiognomie Bezug (Platon: Symposium 215; Xenophon: Sympo-
sium 4, 19 f.), die „dem Blicke des Griechen den Genius eher verhüllen als
andeuten; aber auch in den Reden und dem Benehmen des Sokrates lässt sich
eine gewisse Verstandespedanterie und eine ungriechische Gleichgültigkeit
gegen die sinnliche Schönheit der Form nicht verkennen" (Zeller 1859, 2, 60).
Diese leise kritischen Anmerkungen werden in N.s Sokrates-Adaption radikali-
siert.
68, 30-32 Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten,
durch Kreuzung gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als
niedergehende Entwicklung.] Brobjer 1999a, 357 sieht hier einen Bezug zu
Galton 1883, 42-45, der über die Erblichkeit der kriminellen Natur sowie über
die Hässlichkeit der Verbrecher spricht.
69, 1-3 Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische
Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.] Die Quelle
ist Charles Feres Degenerescence et criminalite, ein Werk, das N. 1888 einer
eingehenden Lektüre unterzogen hat: „Ce n'est pas que je veuille amoindrir la
valeur de l'oeuvre de M. Lombroso et de ses emules: si nous savions que le
caractere principal du criminel est d'etre laid, ,monstrum in fronte, monstrum
in animo', les anthropologistes ont fait l'histoire naturelle de cette laideur, et
personne ne peut prevoir quelle sera la portee des faits importants qu'ils ont
mis en lumiere." (Fere 1888, 80; von N. Unterstrichenes kursiviert. „Nicht dass
ich den Wert des Werks von Herrn Lombroso und seinen Nacheiferern schmä-
lern wollte: wenn wir wüssten, dass es die Haupteigenschaft eines Kriminellen
ist hässlich zu sein, ,ein Ungeheuer im Angesicht, ein Ungeheuer im Geiste';
die Anthropologen haben die Naturgeschichte dieser Hässlichkeit geschrieben
und niemand kann vorhersehen, welche Tragweite die Tatsachen haben wer-
den, die sie ans Licht gebracht haben.").
N.s Interesse an einer Physiologisierung und Pathologisierung scheinbar
so hehrer Gegenstände wie Geist und Kultur fand in der Lektüre Feres, der als
Schüler von Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpetriere ein bedeutender
physiologischer Experimentator und Theoretiker war, wichtige Nahrung. Dies
belegen zahlreiche Exzerpte im Nachlass 1888 (Konkordanz bei Lampl 1986,
250-264). N. erweist sich als gründlicher Kenner der Medizin-Diskurse seiner
Zeit, die er mit den kultur- und stilkritischen Diskursen amalgamiert. Beson-
ders deutlich ist dies beim Begriff der Degenerescenz und decadence, vgl. NK
67, 18 u. 71, 14. Die Pathologisierung des Sokrates hat übrigens ihre Parallele
in der Selbstpathologisierung N.s im Vorwort zu WA, KSA 6, 11 f.