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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0287
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268 Götzen-Dämmerung

des Wortes" (Lange 1887, 38). Für ihn war „Sokrates [...] ein Mann aus dem
Volke" (Lange 1887, 45).
Schon in N.s Basler Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen werden
Sokrates' Hässlichkeit und sein Plebejertum parallelisiert: „Sokrates ist Plebe-
jer, er ist ungebildet u. hat auch nie durch Autodidaktik den versäumten
Jugendunterricht nachgeholt. Er ist sodann spezifisch häßlich u. wie er selbst
gesagt hat, mit den heftigsten Leidenschaften von der Natur begabt." (KGW II
4, 353, ähnlich II 4, 352; vgl. auch Souladie 2006, 43, der daraus die Kontinuität
von N.s Sokratesbild ableitet).
Die Armut des Sokrates ist in diversen antiken Quellen dokumentiert
(z. B. Platon: Apologie 23b, 38a; Politeia 337d; Xenophon: Memorabilien I 2,
1). Zeller 1859, 2, 40, der diese Stellen nennt, bringt die Armut direkt mit
Sokrates' Abstammung in Verbindung („Armuth und niedrige Herkunft"),
bestreitet aber die von anderen antiken Zeugnissen (Aristoxenos) kolportierte
Unbildung (Zeller 1859, 2, 41, Fn. 2 sowie ebd., 2, 55, fortlaufende Fn. von 2,
54). Die Auslassung in 68, 26-28 ließe sich übrigens auch als (ironische?)
Anwendung genau jener Milieu-Theorien auf Sokrates verstehen, für die N.
sonst in GD nur Hohn und Spott übrig hat (vgl. NK 145, 25-28): Sokrates ist
dann nur zu verstehen aus dem sozialen Umfeld, dem er entstammt. Für die
ausführliche Behandlung des Sokrates-Themas in GD ist die Anwendung des
von N. aus einschlägigen Lektüren gewonnenen physiologischen Wissens
charakteristisch, mit dessen Hilfe die Hässlichkeit als Symptom des physi-
schen Niedergangs und des Instinktverfalls verstanden wird, den Sokrates
mittels Vernunft, Dialektik und Lebensverneinung letztlich erfolglos zu
bewältigen hofft. Nicht unwesentlich für die Interpretation des ganzen Kapi-
tels ist es aber, zu erkennen, dass N. — in einer ironischen Adaption sokrati-
scher Ironie? — selbst gerade hier unentwegt jene dialektische Methode
anwendet, deren Niedergangscharakter er anprangert (vgl. auch NK 69, 3 f.).
Die Negativzeichnung des Sokrates hat durchaus antike Vorbilder, vgl. z. B.
Zeller 1859, 2, 53, Fn. 3 u. ö.
68, 28-30 Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe
eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche?] Vgl. Zeller 1859, 2, 59:
„So tief aber Sokrates im griechischen Volksgeiste wurzelt, so auffallend ist
andererseits das Ungriechische und fast Moderne seiner Erscheinung, jenes
fremdartige Element [...]. Näher besteht diese Sonderbarkeit, dieses für den
Griechen Unbegreifliche, nach PLATO'S treffender Andeutung [sc. Symposion
215 a-b und 221 e-f], in einem Widerspruch der äusseren Erscheinung und des
inneren Gehalts, der zu jener plastischen Durchdringung beider, welche das
klassische Ideal bildet, in einem merkwürdigen Gegensatz steht: wir treffen
bei Sokrates einestheils eine Gleichgültigkeit gegen das Aeussere, wie sie dem
 
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