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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0301
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282 Götzen-Dämmerung

Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu
Ende. — Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, — sein Mittel,
seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung... Überall waren die
Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess\ Während
N. bislang (seit GT) Sokrates für den Niedergang des Griechentums, für den
Abfall von idealen Zuständen direkt verantwortlich gemacht hat (vgl. NK 68,
2-10), erscheint er hier zunächst nur als individuelle Repräsentation einer
dekadenten Zeit. Das Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts wird so dem
decadence-bestimmten Europa des 19. nachchristlichen Jahrhunderts angenä-
hert — die Sokrates damals zufallende Aufgabe eines Arztes der Kultur (vgl.
NK 72, 22 f.) übernimmt N. nun selbst. Sowohl Sokrates wie N. treten diagnos-
tisch und therapeutisch an ihre Zeitgenossen heran — N. übernimmt also trotz
aller Sokrates-Kritik das von Sokrates gelebte Selbstverständnis des Philoso-
phen. Eine ähnliche Gedankenfigur findet sich in JGB 212 (KSA 5, 146, 25-147,
18), wo der sokratischen Therapie — nämlich Gleichheit mittels Ironie — für
ihre Zeit durchaus ein Recht eingeräumt wird, wenn auch nicht für die Gegen-
wart, wo Ungleichheit angezeigt sei (vgl. dazu Kaufmann 1982, 462 u. Sommer
2007a, 77 f.). In GD bleibt die therapeutische Methode der Ironie (72, 23) die-
selbe, das eigentliche Medikament ist jetzt aber die Vernunft, vgl. GD Das Prob-
lem des Sokrates 10, KSA 6, 72, 4-9. Und das Problem liegt nach wie vor im
Umgang mit den Instinkten — Anarchie hier (71, 18), Ermüdung dort (JGB 212,
KSA 5, 146, 26). Aber vergleicht man die Stellen in JGB und GD, wird deutlich,
dass N. sein Sokratesbild situativ festlegt. Es bleibt damit ähnlich flüssig wie
die antike Überlieferungstradition zum Thema.
71, 14 Degenerescenz] Der Begriff der Degenerescenz in der substantivischen
Form taucht bei N. erst 1888 unter dem Einfluss der Lektüre von Feres Degene-
rescence et criminalite (1888) auf (vgl. NK 69, 1-3 und NK KSA 6, 22, 34-23, 2,
kritisch dazu Wahrig-Schmidt 1988, 450). Hat N. für die decadence zunächst in
der Kultur- und Stilkritik in Frankreich eine reiche Quelle gefunden (Bourget
1883, vgl. NK 67, 18 und NK KSA 6, 11, 21 f.), so lädt sich dieser Begriff 1888
immer stärker medizinisch-pathologisch auf und deckt sich schließlich weitge-
hend mit dem Bedeutungsfeld von Degenerescenz (vgl. auch Horn 2000, 133 f.;
Müller-Lauter 1999b, 1-23; Montinari 1984, 75-77). Explizit geschieht dies in
Nachlassnotaten: NL 1888, KSA 13, 14[73], [74] und [75], 255 f. (KGW IX 8, W II 5,
143, 7-72), wobei es sich zumindest bei 14[75] um eine direkte Fere-Paraphrase
handelt (Fere 1888, 124 f., Nachweis bei Lampl 1986, 251 f.). Während Fere
degenerescence auf klinisch internierte Geisteskranke und Verbrecher anwen-
det, überträgt N. sie in produktiver Umsetzung des angelesenen medizinischen
Wissens auf Wagner (WA 5, KSA 6, 23), auf Sokrates sowie auf Jesus (AC 32,
KSA 6, 203, 15-17) und verkehrt damit die traditionelle Wertschätzung dieser
 
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