Stellenkommentar GD Sokrates, KSA 6, S. 70-71 281
densbegrenzung: „Ebenso wird in anderer Beziehung zwar die Enthaltsamkeit
des Sokrates bewundert; wie weit er aber doch von der grundsätzlichen
Strenge unserer Moral entfernt ist, können zahlreiche Stellen der xenophonti-
schen Denkwürdigkeiten beweisen. Trägt doch auch der Umgang des Sokrates
mit der Jugend den volksthümlichen Charakter der Knabenliebe; denn so ent-
schieden er auch hierin über alle Verdächtigungen erhaben ist [...], so wenig
lässt sich doch in seinem Verhältniss zu schönen Jünglingen ein sinnlich
pathologisches Element, wenigstens als Ausgangspunkt und unschuldige
Unterlage geistiger Neigung, verkennen; tadelt er auch die hässlichen Aus-
wüchse der griechischen Sitte auf's Stärkste, so fasst er doch [...] das Verhält-
niss zu seinen jüngeren Freunden vorherrschend in der Form des Eros, der
leidenschaftlichen, auf ästhetischem Wohlgefallen beruhenden Neigung." (Zel-
ler 1859, 2, 57 f., vgl. auch 87 f.) Der Agon wird weder bei Zeller noch bei Lange
(vgl. NK 71, 7 f.) mit dem Eros kontaminiert; hierin liegt N.s Provokation. Vgl.
auch NK 126, 24-26.
Freilich wurde in der zeitgenössischen Literatur zu Platon das Problem
des Sokrates als Erotiker durchaus auch unter diesem Titel besprochen, so
beispielsweise bei Franz Susemihl (der N. Anfang 1872 angefragt hatte, ob er
einen allfälligen Ruf nach Greifswald annähme — vgl. seinen Brief an N. vom
06. 02. 1872, KGB II 2, Nr. 281, S. 535 f.) in einem Aufsatz Ueber die composition
des platonischen gastmahls, der 1851 im Philologus erschienen war — in einem
Band, den sich N. am 08. 02. 1873 von der Basler Universitätsbibliothek lieh
(Crescenzi 1994, 420). Susemihl verwahrt sich gerade dagegen, in Sokrates
einen „sinnlichen Erotiker" zu sehen (wie ihn einer falschen Interpretation
gemäß Aristophanes karikiert haben soll): „und dabei erkennen wir eben im
Sokrates den höhern erotiker, welcher in aller sinnlichen schönheit nur die
unvergängliche und bleibende anschaut, der in seinem verkehr mit wohlbegab-
ten jünglingen die erzeugung von weisheit und tugend zum einzigen zweck
hat" (Susemihl 1851, 203). Susemihl nimmt das Thema auch in seinem groß
angelegten Werk Die genetische Entwicklung der platonischen Philosophie auf
(z. B. Susemihl 1857, 178) — ein Werk, das sich N. seit 1871 ebenfalls in der
Bibliothek besorgt hatte (Crescenzi 1994, 407, 411 u. 416). Bei N. bekommt das
für die Altphilologie des 19. Jahrhunderts zunächst unschuldige Wort des Eroti-
kers einen anderen Klang. Vgl. NK KSA 6, 284, 14-16.
9
71, 11-18 Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, dass sein Fall,
seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von
densbegrenzung: „Ebenso wird in anderer Beziehung zwar die Enthaltsamkeit
des Sokrates bewundert; wie weit er aber doch von der grundsätzlichen
Strenge unserer Moral entfernt ist, können zahlreiche Stellen der xenophonti-
schen Denkwürdigkeiten beweisen. Trägt doch auch der Umgang des Sokrates
mit der Jugend den volksthümlichen Charakter der Knabenliebe; denn so ent-
schieden er auch hierin über alle Verdächtigungen erhaben ist [...], so wenig
lässt sich doch in seinem Verhältniss zu schönen Jünglingen ein sinnlich
pathologisches Element, wenigstens als Ausgangspunkt und unschuldige
Unterlage geistiger Neigung, verkennen; tadelt er auch die hässlichen Aus-
wüchse der griechischen Sitte auf's Stärkste, so fasst er doch [...] das Verhält-
niss zu seinen jüngeren Freunden vorherrschend in der Form des Eros, der
leidenschaftlichen, auf ästhetischem Wohlgefallen beruhenden Neigung." (Zel-
ler 1859, 2, 57 f., vgl. auch 87 f.) Der Agon wird weder bei Zeller noch bei Lange
(vgl. NK 71, 7 f.) mit dem Eros kontaminiert; hierin liegt N.s Provokation. Vgl.
auch NK 126, 24-26.
Freilich wurde in der zeitgenössischen Literatur zu Platon das Problem
des Sokrates als Erotiker durchaus auch unter diesem Titel besprochen, so
beispielsweise bei Franz Susemihl (der N. Anfang 1872 angefragt hatte, ob er
einen allfälligen Ruf nach Greifswald annähme — vgl. seinen Brief an N. vom
06. 02. 1872, KGB II 2, Nr. 281, S. 535 f.) in einem Aufsatz Ueber die composition
des platonischen gastmahls, der 1851 im Philologus erschienen war — in einem
Band, den sich N. am 08. 02. 1873 von der Basler Universitätsbibliothek lieh
(Crescenzi 1994, 420). Susemihl verwahrt sich gerade dagegen, in Sokrates
einen „sinnlichen Erotiker" zu sehen (wie ihn einer falschen Interpretation
gemäß Aristophanes karikiert haben soll): „und dabei erkennen wir eben im
Sokrates den höhern erotiker, welcher in aller sinnlichen schönheit nur die
unvergängliche und bleibende anschaut, der in seinem verkehr mit wohlbegab-
ten jünglingen die erzeugung von weisheit und tugend zum einzigen zweck
hat" (Susemihl 1851, 203). Susemihl nimmt das Thema auch in seinem groß
angelegten Werk Die genetische Entwicklung der platonischen Philosophie auf
(z. B. Susemihl 1857, 178) — ein Werk, das sich N. seit 1871 ebenfalls in der
Bibliothek besorgt hatte (Crescenzi 1994, 407, 411 u. 416). Bei N. bekommt das
für die Altphilologie des 19. Jahrhunderts zunächst unschuldige Wort des Eroti-
kers einen anderen Klang. Vgl. NK KSA 6, 284, 14-16.
9
71, 11-18 Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, dass sein Fall,
seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von